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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees
Autoren: Angelika Overath
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1. September
    Scuol-Tarasp, Endstation der Rhätischen Bahn. Ich nehme meinen Rucksack. Vom Zug sind es wenige Schritte über den Bahnhofsplatz zur Haltestelle des Postautos nach Sent. Drüben auf der Südseite des Tals ziehen die weißen Gipfel der Unterengadiner Dolomiten über ein metallenes Schild aus Nachmittagsblau. Hinter dieser Bergkette beginnt schon Italien. Ich gehe durch Gruppen von sonnenmüden Touristen mit Teleskopstöcken, sportlich gefederten Kinderwagen, Rollkoffern. Radfahrer haben ihre Helme an die Lenker gehängt und halten die Gesichter in die Sonne. Es ist warm und riecht nach Schnee. Hier möchte ich Ferien machen, denke ich. Und dann erschrecke ich für einen Moment. Denn das ist vorbei.
    Allegra, grüßt der Fahrer und knipst die Streifenkarte ab. Das Postauto fährt durch Scuol. Am Ende des Dorfs, auf der Anhöhe des Hospitals, biegt es rechts in eine Bergstraße ein und schraubt sich langsam einen Steilhang hinauf. Von weitem ist Sent zu sehen, kehrenweise: mit dem spitzen Kirchturm auf einem Terrassenvorsprung
in den Wiesen, hoch oben über dem Inn. Das Postauto erreicht das Gemeindegebiet des Dorfes und die Straße wird zur schattigen Allee. Ich war auf einer Reise, denke ich, und jetzt fahre ich -
    Warum zögere ich vor dem Wort »nach Hause«? Ich fahre dahin, wo mein Bett steht, mein Tisch, wo mein Mann liest und schreibt, wo unser jüngster Sohn zur Schule geht.
    Seit gut zwei Jahren leben wir in diesem Bergdorf, das wir nur aus den Ferien kannten. Mittlerweile ist unser Alltag flächig geworden; es gibt nicht mehr die Spitzen des Überraschens. Und doch: vom Rheintal kommend beim Umsteigen in Landquart sofort die andere Luft, voll Heu, Schnee, die körperhafte Gewißheit, nun könne einem nichts mehr geschehen. Eine gute Stunde später, wenn die Rhätische Bahn durch die Felsenpforte ins Prättigau hineingefahren, oberhalb von Klosters im gedärmhaften Dunkel des Vereinatunnels verschwunden ist und bei Sagliains wieder ins Licht stößt: Herzklopfen. Immer noch.

2. September
    Es sind zuerst die Augen. Die opaken, grünblauen, nach oben gekehrten Augen einer Gemse. Dahinter im Dunkel des offenen Kofferraums eine zweite Gemse. In den schmalen Mund hat ihnen der Jäger Edelweiß gesteckt. Die Tiere liegen in einer blumenhaften Drehung da, die
ihnen nur bei leblosen Beinen gegeben werden konnte. Das feste Fell ist struppig; eckige Anmut. Am Bauch zeigen die Gemsen einen roten Schnitt. An den Kehlen auch.
    Die Metzger des Dorfs haben mit Kreide auf ihren Straßentafeln frisches Wild angeschrieben.

3. September
    Über Nacht ist der Wald hinter dem Dorf weiß, auch auf den Wiesen unterhalb des Waldrands liegt Schnee. Gegen Mittag werden die Hänge wieder abgetaut sein. Doch bald beginnt die weiße Zeit.
     
    Mein Gemüsegarten über der Straße sieht aus wie ein Dschungel. Reisen rächt sich. Ich schäme mich, denn in Helens Garten nebenan stehen die Salatköpfe grün und unkrautfrei auf frisch geharkter schwarzer Erde. Ihre Akeleien blühen duftig, hoch ragt ihr Rittersporn. Noch ihr Schnittlauch hält sich gerade, während meiner überlang sich unter rosa Blütenkugeln biegt.
    Auf meiner Seite: wuchernde Minze, monströser Mangold, überall und ausufernd Ringelblumen, die Wicken überwachsen den hohen Salbeistrauch, der blau blüht; die Reihen von Koriander sind ins Kraut geschossen. Nur die Reben ranken so, als gehörten sie hierher. Ich habe Americano-Trauben aus dem Tessin gesetzt, eine robuste Sorte. Jetzt bilden sich Früchte,
manche noch grün, aber andere schon groß und dunkelblau wie dicke Heidelbeeren. Ich koste eine, und sie ist süß. Ich glaube, meine Rebstöcke sind die einzigen von Sent. Und bin ein bißchen stolz, daß sie in meinem Garten auf einer Höhe von 1450 Metern tatsächlich reifende Trauben tragen.
     
    Engadin: Garten des Inn. Der Inn entspringt im Oberengadin oberhalb von Maloja nahe dem Lunghin-Paß und stürzt über Passau, wo er sich mit der Donau verbindet, ins Schwarze Meer. Er ist der Geschwisterfluß der Julia, die über den Rhein in die Nordsee fließt, und der Maira, die mit dem Po zur Adria strömt. Auf dem Dach des Engadins liegt Europas wichtigste Wasserscheide. Ich habe das Engadin immer als europäisch empfunden. Schwarzes Meer. Nordsee. Adria. Wo, wenn nicht hier, grenzte wie Böhmen die Schweiz ans Meer!
     
    Du bist wieder da! sagt Helen. Sie bringt ein Sieb mit Grünabfällen für den Kompost, den wir uns teilen. Ihr linkes Auge ist noch
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