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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer
Autoren: R Merle
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    |5| ERSTES KAPITEL
    Fensterloser Raum mit Klimaanlage. Eichentäfelung bis auf halbe Höhe. Darüber die Wände, weiß, mit einem einzigen Stich: eine
     Szene von der Pockenimpfung auf Kuba im Jahre 1900. Dicker Velourteppich, in den ich beim Eintreten bis an die Knöchel eingesunken
     bin. Großer, komfortabler Sessel, in den ich mich, auf einen Wink, bis zu den Hüften fallen lasse.
    Daraufhin ein langes Schweigen. Ich bin hier, um zu reden, doch man scheint mich dazu nicht sehr bereitwillig auffordern zu
     wollen. Das Wort ist eine Sache, die sich die Großen dieser Welt nicht gerne nehmen lassen: sie ziehen es vor, sich selbst
     zu hören, statt zuzuhören. Überdies bin ich mir bewußt, keine
persona grata
zu sein. Weder ich selbst noch das, was ich zu sagen habe. Man läßt mich schmoren. Gleich von Anfang an soll ich mich von
     meiner Bedeutungslosigkeit durchdringen lassen.
    Alle drei sitzen stumm auf der anderen Seite eines ovalen Tisches, dessen übermäßige Größe vermutlich den ganzen Abstand zwischen
     der Macht und dem einfachen Bürger symbolisieren soll. Mich beschleicht das Gefühl, im Examen zu stehen, was mich zwar verjüngt,
     mir aber keineswegs zusagt. Und es scheint wohl auch so etwas Ähnliches zu sein, denn obwohl ich ein anerkannter Neurologe
     bin, frage ich mich, ob ich nicht durchfallen werde. Die Ironie will es, daß meine Karriere überhaupt nicht auf dem Spiel
     steht und daß ich hier bin, um das öffentliche Interesse vor den Menschen, zu deren Obliegenheiten es gehört, zu verteidigen.
    Mir sitzen drei Männer gegenüber. In der Mitte, ebenso massig und vierschrötig wie die »bundesfaschistische« Architektur des
     HEW 1 , Staatssekretär Matthews. Zur Rechten von Matthews der Direktor des Gesundheitswesens, Skelton, der sich |6| selbst übrigens, nach seinem abgezehrten Äußeren zu urteilen, nicht bester Gesundheit erfreut. Zur Linken des Staatssekretärs
     und ihn mit diskreter Geringschätzung betrachtend, Cresby, einer der brillantesten Berater des Präsidenten.
    Von den dreien ist mir nur Cresby bekannt. Er ist ein junger Glatzkopf. Er ist lebhaft, klein, schmächtig, mit pechschwarzen
     Pupillen. »Er gilt als Genie«, sagt meine zweite Frau, Anita, nicht ohne Bitterkeit, denn sie ist der Meinung, es liege nur
     an der Frauenfeindlichkeit unserer heutigen Gesellschaft, daß sie lediglich die Sekretärin des Präsidenten, nicht seine Beraterin
     ist.
    Und sie hat sicher recht. Auf Anita angewandt, bekommt das Wort »kompetent« fast einen abwertenden Sinn. Ihr Wissen ist unermeßlich,
     und hinter ihrer schönen Stirn, ihrem herrlichen mahagonifarbenen Haar und ihren grünen Augen steckt ein miniaturisierter
     Elektronenrechner, der mit hoher Effektivität funktioniert.
    Ich spreche davon in aller Objektivität. Ich sehe meine Ehefrau Anita zu selten, um wirklich in sie verliebt zu sein. Karriere
     verpflichtet: wir leben nicht zusammen. Sie besucht mich zwei- oder dreimal die Woche abends in meinem Haus in Wesley Heights,
     und sie kommt gar nicht, wenn das Weiße Haus eine Krise durchmacht. Ich muß sagen, daß mich die Rückwirkung der Staatsangelegenheiten
     auf die Häufigkeit meiner Orgasmen immer wieder in Erstaunen versetzt.
    Über Anita habe ich die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf die Gefahren der Enzephalitis 16 gelenkt, und der Präsident hat,
     ohne das HEW zu fragen, Cresby beauftragt, mir die Leitung einer Kommission zur Untersuchung der Krankheit anzuvertrauen.
    Mein vertraulicher Bericht liegt nun da, auf dem riesigen Tisch zwischen Matthews’ wuchtigen, behaarten Pranken. Er blättert
     in ihm herum, um mir zu beweisen, daß er ihn nicht gelesen hat, und um mich seine Feindseligkeit spüren zu lassen, während
     er mich hinhält. Obwohl mich sein Schweigen mehr und mehr bedrückt, gebe ich Matthews nicht völlig die Schuld. Erst hat ihn
     der Präsident, Gott weiß warum, in dieser Sache ausgeschaltet, und als der Augenblick gekommen ist, zu konkreten Maßnahmen
     überzugehen, schaltet er ihn wieder ein. Das ist eine Herausforderung. Schlimmer: es ist demütigend.
    |7| Vor diesem Tag habe ich Matthews nur einmal auf dem Bildschirm gesehen: Er hatte den optimistischen Blick des Politikers und
     ein so markant vorspringendes Kinn, daß man im Prinzip zuversichtlich in die Zukunft der Vereinigten Staaten blicken konnte.
     Das Kinn hat sich nicht verändert, doch die unter seinen dichten schwarzen Brauen liegenden Augen haben nichts
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