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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond
Autoren: Dean R. Koontz
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ERSTES KAPITEL
    Jack McGarvey betrachtete den Wagen einen Augenblick lang und bewunderte ihn, wie er ein unbezahlbares Gemälde im Getty Museum oder die Erstausgabe eines Romans von James M. Cain mit makellos erhaltenem Schutzumschlag bewundern würde - ohne den starken Drang, sie sogleich besitzen zu wollen. Er erfreute sich einfach nur an ihrer Existenz. In einer Gesellschaft, die oft auf die Anarchie zuzusteuern schien, in der Häßlichkeit und Verfall jeden Tag neue Vorstöße unternahmen, wurde seine Stimmung von jedem Beweis gehoben, daß die Hände von Männern und Frauen noch imstande waren, schöne und gute Dinge zu schaffen. Der Lexus war natürlich ein Import, an fremden Ufern entworfen und hergestellt; doch die gesamte menschliche Spezies schien verloren zu sein, nicht nur seine Landsleute, und ein deutlich sichtbarer Beweis für Niveau und Hingabe war ermutigend, ganz gleich, wo man ihn fand. Ein Tankwart in grauer Uniform eilte aus dem Büro und näherte sich dem funkelnden Wagen, und Jack richtete seine volle Aufmerksamkeit wieder auf Hassam Arkadian.
    »Meine Tankstelle ist eine Insel der Sauberkeit in einem schmutzigen Meer, ein Auge der Vernunft in nem Sturm des Wahnsinns«, sagte Arkadian. Er sprach ganz ernst und merkte nicht, wie melodramatisch es klang. Er war schlank, etwa vierzig Jahre alt, hatte dunkles Haar und einen gepflegten, kurzgeschnittenen Schnurrbart. Die Bügelfalten seiner grauen Arbeitshosen aus Baumwolle waren messerscharf, das dazu passende Hemd und die Jacke makellos.
    »Ich habe die Aluminiumverkleidung und die Ziegel mit einer neuen Versiegelung behandeln lassen«, sagte er und deutete mit einer schwungvollen Armbewegung auf die Fassade der Tankstelle.
    »Da bleibt keine Farbe darauf haften. Nicht einmal Metallicfarbe. War nicht billig. Aber wenn jetzt des Nachts diese jungen Bandenmitglieder oder die blöden, verrückten Sprayer kommen und ihren Dreck auf Wände sprühen, waschen wir ihn einfach ab, waschen wir ihn sofort am nächsten Morgen ab.«
    Mit seinem peinlich genauen Ordnungssinn und den schnellen, schlanken Händen hätte Arkadian ein Chirurg sein können, der nun seinen Arbeitstag in einem OP antreten wollte. Statt dessen war er der Besitzer und Betreiber der Tankstelle.
    »Wissen Sie«, sagte er ungläubig, »daß es Professoren gibt, die Bücher über den Wert von Graffiti geschrieben haben? Den Wert von Graffiti? Den Wert?«
    »Sie nennen es Straßenkunst«, sagte Luther Bryson, Jacks Partner. Arkadian sah skeptisch zu dem riesigen schwarzen Cop hoch. »Sie halten das, was diese Punks machen, für Kunst?«
    »He, nein, ich doch nicht«, sagte Luther.
    Mit fast einem Meter neunzig war er an die zehn Zentimeter größer als Jack, er wog auch zwanzig Kilo mehr als dieser, nämlich stattliche hundert Kilo! Arkadian war er vielleicht zwanzig Zentimeter und dreißig Kilo voraus. Obwohl er ein guter Partner und ein guter Mensch war, schien sein steinernes Gesicht zu unbeweglich zu sein, als daß er es zu einem Lächeln verziehen konnte. Seine tiefliegenden Augen sahen stur geradeaus. Mein Malcolm-X-Blick, sagte er immer. Ob mit oder ohne Uniform, Luther Bryson schüchterte einfach jeden ein, vom Papst bis zu einem Handtaschendieb.
    Aber jetzt setzte er diesen Blick nicht ein, er versuchte nicht, Arkadian einzuschüchtern, war er doch einer Meinung mit ihm. »Ich doch nicht. Ich sage doch nur, daß diese beschissenen Feiglinge es so nennen. Straßenkunst.«
    »Das sind Professoren«, sagte der Tankstellenbesitzer.
    »Gebildete Männer und Frauen. Doktoren der Kunst und Literatur. Sie sind in den Genuß einer Ausbildung gekommen, die meine Eltern mir nicht bieten konnten, aber sie sind dumm. Es gibt kein anderes Wort dafür. Dumm, dumm, dumm.« Sein ausdrucksvolles Gesicht enthüllte jene Frustration und Wut, auf die Jack in der Stadt der Engel immer häufiger stieß.
    »Was bringen die Universitäten heutzutage nur für Narren hervor?«
    Arkadian hatte schwer geschuftet, um seine Tankstelle zu etwas ganz Besonderem zu machen.
    Das Grundstück wurde von keilförmigen Blumenbehältern aus Ziegeln gesäumt, in denen hohe Palmen, mit Büscheln roter Blüten besetzte Azaleen und rosa und purpurnes Springkraut wuchsen. Nirgendwo war Schmutz oder Abfall zu sehen. Der Bereich, auf dem sich die Tanksäulen befanden, war von Säulen aus Ziegelsteinen umgeben, und die Bauweise der Tankstelle erinnerte an den Kolonialstil.
    Schon in dessen Blütezeit hätte die Tankstelle in Los
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