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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen
Autoren: Ruth Rendell
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Damit wäre es vorbei, sobald sie Wills Stiefmutter wäre. Abende gäbe es dann keine mehr. Schon das Arbeiten an und für sich wäre schwierig genug. Doch was malte sie sich nur alles aus? Natürlich hatte er einen Vater. Sie spürte ihn auf und rief ihn an. Obwohl er nie irgendeinen Unterhalt für das Kind gezahlt und Will auch nur selten besucht hatte, versprach er jetzt zu kommen.
    Becky nahm noch einmal zwei Wochen frei, worüber ihr Chef nicht sonderlich erbaut war. Während sie zu Hause war, gelang es ihr, Will in einer Kinderkrippe unterzubringen. Gleichzeitig brachte sie nach einiger Vorbereitungszeit den Mut auf, beim Jugendamt anzurufen, um die Leute dort auf die Situation vorzubereiten. Wills Vater kam tatsächlich. Will, der zu allen freundlich und vertrauensselig war – zu freundlich und zu vertrauensselig –, saß auf seinen Knien, während der Mann Becky erklärte, dass der kleine Junge unmöglich bei ihm leben könne. Seine Frau sei erst neunzehn und schwanger. Von ihr könne man nicht erwarten, sich auch noch um einen Dreijährigen zu kümmern.
    Will wurde in Pflege gegeben. Bevor das Jugendamt ihn abholen kam, weinte Becky fast die ganze Nacht, aber behalten konnte sie ihn nicht. Sie konnte es einfach nicht. Wenigstens war es ein kleiner Trost, wie er auf seine fröhlich-unschuldige Art die Sozialarbeiterin an der Hand nahm und sie anlächelte. Alles wird gut mit ihm werden, redete sie sich ständig ein, alles wird gut. Es wird ihm besser gehen als bei mir. Er wird zu guten Pflegeeltern kommen. Vielleicht werden ihn auch Leute adoptieren, die sich unbedingt ein Kind wünschen. Doch das tat keiner. Obwohl er hübsch war und von Natur aus lieb und brav – zu brav – wollte niemand ein Kind, bei dem »etwas nicht stimmte«. Am meisten quälte Becky die Frage, ob er so geworden war, weil sie zugelassen hatte, dass man ihn in Pflege gab. Hatte sie es etwa aus Egoismus getan? Stundenlang versuchte sie, sich an Momente vor dem Tod seiner Mutter zu erinnern, in denen er anders als andere Kinder gewesen war. Tatsächlich fiel ihr wieder ein, wie Anne gesagt hatte, er sei zu still, zu brav und nicht so wild und rebellisch, wie ein kleiner Junge eben sein sollte. Trotzdem plagten sie Schuldgefühle.
    Diese kompensierte sie – besser gesagt, sie versuchte es – durch Besuche im Kinderheim, was mit Missbilligung aufgenommen wurde. Auch ihre Ausflüge mit ihm fanden nur begrenzt Zustimmung. Als es ihr finanziell besser ging und ihr Geschäft blühte, fing sie an, ihm Geschenke zu kaufen, die sie bei sich zu Hause aufbewahren musste, damit die anderen Kinder nicht neidisch würden. Als er zwölf war, erbot sie sich, die Kosten für eine Privatschule in Neuengland zu übernehmen, wo man Schüler seiner Art einzeln betreute. Dies unterband das Jugendamt. Man war dort sehr progressiv und äußerst links eingestellt und erinnerte Becky daran, dass ihr keinerlei Kontrolle über Wills Schicksal oder seine Zukunft zustand. Schließlich sei sie nur seine Tante. Was seinen Vater betraf – der hatte sich nach Australien verdrückt und noch eine Frau mit Kind hinterlassen.
    »Wir sind es, die diese Angelegenheit zu regeln haben, Ms. Cobbett«, sagte Wills Sozialarbeiterin. »Die Entscheidung liegt bei uns.«
    Also ging Will auf eine Sonderschule, wo alle Kinder Lernschwierigkeiten hatten. Eine Schule ohne ausreichend Personal, wo die wenigen vorhandenen Lehrer bereits vom umfangreichen Papierkram erschöpft waren, den sie erledigen mussten. Allein dass er irgendwann lesen konnte, fand Becky schon bemerkenswert, auch wenn er es nur schaffte, wenn es sich um kurze, einfache Wörter handelte. Nur im Rechnen war er ziemlich gut. Vielleicht wäre es ihm auf der Privatschule in Vermont auch nicht besser ergangen. Was würde aus ihm werden, wenn er sechzehn war und die Schule verlassen musste? Wie würde er seinen Lebensunterhalt verdienen?
    Das Jugendamt fand für ihn einen Platz in einem Vorbereitungskurs fürs College. Zu allen war er nett und höflich und lernwillig, aber die Diagramme, die er anschauen sollte, und die Inhalte der technischen Handbücher, die er lesen sollte, ergaben für ihn keinen Sinn. Hier ging es nicht um einfaches Rechnen, sondern um Gewichte und Maße und Berechnungen, die seinen Horizont allesamt überstiegen. Damals wohnte er mit sechs eigens dafür ausgewählten, jungen Leuten in einem Haus. Alle waren Pflegekinder gewesen. Obwohl er sich nie beklagte, spürte Becky, dass man ihn hänselte
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