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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel
Autoren: Anne Perry
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Kapitel 1
    A uf der Zuschauertribüne des Kriminalgerichts Old Bailey herrschte drangvolle Enge. Längst waren alle Plätze besetzt, und immer noch mussten die Saaldiener Menschen abweisen, die hineinwollten. An diesem 18. April 1892, dem ersten Montag nach Ostern, begann in London nicht nur wie immer die Saison, sondern man verhandelte auch die Anklage wegen Mordes an dem Forschungsreisenden und Altertumskundler Martin Fetters. Es war der dritte Verhandlungstag im Verfahren gegen den Beschuldigten John Adinett, einen mit zahlreichen Orden dekorierten Offizier.
    Als Zeuge vernommen wurde Thomas Pitt, Oberinspektor der Polizeiwache in der Bow Street.
    Der Vertreter der Anklage Ardal Juster, ein etwa vierzig Jahre alter dunkelhaariger, hoch gewachsener schlanker Mann, der recht gut aussah, erhob sich von seinem Platz im Saal und trat dem Zeugenstand gegenüber. Dabei bewegte er sich mit der Anmut einer Raubkatze.
    »Fangen wir doch einmal von vorn an, Mr. Pitt.« Bei diesen Worten sah er zum Zeugenstand empor. »Wo genau befanden Sie sich zu jener Zeit? Wer hat Sie hinzugezogen?«
    Pitt straffte sich ein wenig. Davon abgesehen, dass auch er ziemlich groß war, ähnelte er Juster in keiner Beziehung. Seine Haare waren zu lang, die Taschen seines Jacketts ausgebeult, und die Krawatte hing schief. Es hatte ihm nie zugesagt, als Zeuge vor Gericht aussagen zu müssen, obwohl er es schon
zwanzig Jahre lang tat, denn diese Aufgabe war ihm zugefallen, seit er als einfacher Streifenbeamter bei der Polizei angefangen hatte. Stets war ihm bewusst gewesen, dass jedes Mal zumindest der Ruf eines Menschen auf dem Spiel stand, wenn nicht seine Freiheit. In diesem Fall ging es sogar um das Leben des Angeklagten Adinett. Es fiel ihm nicht schwer, dessen kaltem und gleichmütigem Blick von der Anklagebank standzuhalten. Er würde die Wahrheit sagen. Nichts weiter. Was die Folgen daraus betraf – über sie hatte er keine Gewalt. Das hatte er sich schon gesagt, bevor er die wenigen Stufen zum Zeugenstand emporgestiegen war, aber getröstet hatte ihn das nicht.
    Über dem Saal lastete Stille. Kein Laut war von den Zuschauerbänken zu hören. Niemand hustete.
    »Doktor Ibbs hat mich gerufen«, gab Pitt dem Vertreter der Anklage zur Antwort. »Ihm kamen die Umstände von Mr. Fetters Tod verdächtig vor. Da er schon bei anderen Gelegenheiten mit mir zusammengearbeitet hatte, wusste er, dass er sich auf meine Verschwiegenheit verlassen konnte, sofern er sich geirrt haben sollte.«
    »Ich verstehe. Würden Sie uns sagen, wie es weiterging, nachdem Sie Doktor Ibbs’ Anruf bekommen hatten?«
    John Adinett saß reglos auf der Anklagebank. Zwar war er dürr, wirkte aber kräftig, und auf seinen Zügen lag die Selbstsicherheit, die mit Können und dem Recht einhergeht, Privilegien in Anspruch zu nehmen. Manch einer von denen im Saal, die ihn schätzten und bewunderten, war fassungslos, dass man ihm eine solche Tat zur Last legte. Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln. Bestimmt würde Adinetts Anwalt im nächsten Augenblick die Freilassung seines Mandanten beantragen, und man würde sich wortreich bei ihm entschuldigen.
    Pitt holte tief Luft.
    »Ich habe unverzüglich von der Great Russell Street aus Mr. Fetters’ Haus in der Coram Street aufgesucht«, begann er. »Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags. Doktor Ibbs wartete im Vestibül auf mich, und wir sind nach oben in die Bibliothek gegangen, wo man den Toten gefunden hatte.« Während er das sagte, trat ihm die Szene so deutlich vor Augen, als
erstiege er erneut die vom Sonnenlicht überflutete Treppe und ginge an der riesigen chinesischen Vase mit Bambusdekor, an den Bildern mit Blumen und Vögeln und den vier reich verzierten Holztüren mit ihren geschnitzten Rahmen vorüber zur Bibliothek. Im Licht des späten Nachmittags, das durch die hohen Fenster hereinfiel, hatte der Orientteppich rot geleuchtet und waren die Goldbuchstaben auf den Rücken der Bücher, welche die Regale füllten, deutlich hervorgetreten. Auch sah man, wie abgewetzt das Leder der schweren Klubgarnitur war.
    Gerade wollte Juster eine neue Frage stellen, als Pitt fortfuhr: »Die Leiche eines Mannes lag in der hinteren Ecke des Raumes. Von der Tür aus konnte man Kopf und Schultern nicht sehen, weil dazwischen einer der großen Ledersessel stand. Dabei war er, wie mir Doktor Ibbs sagte, schon ein Stück beiseite gerückt worden, damit der Butler an Mr. Fetters herankam, weil er gehofft hatte, er könne noch helfen
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