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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen
Autoren: Ruth Rendell
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gelben Doppellinie sollte ihm schließlich bekannt sein.
    Sie wartete, während zwei stark geschminkte Blondinen durch den Laden spazierten und gläsernes Obst und Figürchen hoch nahmen, bei denen es sich vielleicht um Netsukes handelte, vielleicht auch nicht. Sie wollten sich »nur umsehen«, meinten sie. Kaum waren sie fort, prüfte sie, ob die Ladenglocke noch richtig funktionierte, und ging dann nach hinten in die Küche, wo sie für die Ein-Uhr-Nachrichten den Fernseher einschaltete. Der Nachrichtensprecher trug eine Miene zur Schau, die man vermutlich Moderatoren seiner Art antrainierte, sobald es sich beim Aufmacher um eine deprimierende Schreckensmeldung handelte, wie das bei dem Mädchen, das man letzte Nacht am Boston Place ermordet hatte, der Fall war. Man hatte sie als Caroline Dansk aus der Park Road identifiziert. Sie muss die Park Road hinuntergegangen sein, dachte Inez. Danach hatte sie auf ihrem Weg – vielleicht zur U-Bahn-Station – die Rossmore überquert und war dann in den Boston Place eingebogen. Armes kleines Ding, erst einundzwanzig Jahre.
    Das Bild schwenkte zu den Gleisen, die aus Marylebone herausführten, und zu der parallel dazu verlaufenden Straße mit den hohen Ziegelmauern. Ziemlich gehobene Gegend mit hübsch renovierten Häusern und Baumpflanzungen im Gehsteig. Überall sah man Polizisten und Polizeiautos und Absperrbänder, hinter denen sich wie üblich ein kleiner Menschenauflauf angesammelt hatte, der förmlich nach Neuigkeiten gierte. Bisher noch kein Foto von Caroline Dansk und kein Fernsehauftritt ihrer verzweifelten Eltern. Beides würde in kurzer Zeit folgen, wie auch eine Beschreibung jenes Gegenstands, den ihr der Killer entwendet hatte, nachdem er ihr mit dem Würgeseil den Hals zugeschnürt hatte.
    Wenn es denn derselbe Mann gewesen war. Nachdem sich inzwischen die Sache mit dem Biss als Unsinn und damit auch der Spitzname als unpassend erwiesen hatte, könnte man so etwas lediglich dann behaupten, wenn eines der kleinen Objekte gestohlen worden wäre. Diese jungen Leute besitzen so viel, dachte Inez, jeder einen Computer, eine Digitalkamera und ein Handy. Ganz anders als zu ihrer Zeit. Ein bedrückender Ausdruck: als hätte jeder seine Zeit, und wenn sie vorbei wäre, begänne ein langer Abstieg in die Nacht. Zuerst käme das Zwielicht, dann die Dämmerung und schließlich die Dunkelheit. Ihre eigentliche Zeit hatte erst ziemlich spät im Leben stattgefunden und erst bei der Begegnung mit Martin richtig begonnen. Nach dessen Tod war das Tageslicht nach und nach matter geworden. Also wirklich, Inez, schalt sie sich selbst, das führt doch zu nichts. Mach dir was zu essen, du hast ja keinen Rowley Woodhouse oder einen Morton Phibling, die dich damit versorgen, und wende dich etwas Heitererem zu. Sie machte sich ein Schinkenbrot und holte das Glas Branston-Gurken heraus. Nach noch mehr Tee stand ihr nicht der Sinn. Eine Diät-Cola käme gerade richtig, und das Koffein würde sie für den Nachmittag aufputschen.
    Was er wohl diesem Mädchen entwendet hat? Wer ist er, und wo lebt er? Hat er eine Frau? Kinder, Freunde? Warum tut er das, und wann wird er es wieder tun? Das Spekulieren über solche Dinge hatte etwas Entwürdigendes an sich. Entziehen konnte man sich ihm trotzdem kaum. Gegen ihre Neugier war sie machtlos, ganz im Gegensatz zu Martin, der über dem Hang zu genüsslich ausgebreiteten, hässlichen Details gestanden hatte. Vielleicht wollte er nichts mit der Realität zu tun haben, weil er sich mit jedem Auftritt in einer »Forsyth« -Folge zwangsläufig mit fiktiven Verbrechen befassen musste.
    Die Türglocke läutete. Inez wischte sich die Lippen ab und begab sich wieder in den Laden.

2
    Die Samstage schätzte sie besonders. Mit den Sonntagen war das anders, denn dann rückte schon der Montag gefährlich nahe, überschattete den ganzen Tag und erinnerte einen daran, dass nur noch eine einzige Nacht vor der nächsten Runde in der Tretmühle lag. Nein, Becky Cobbett hatte nichts gegen ihren Job, ganz im Gegenteil. Hatte er sie nicht auf der Gesellschaftsleiter nach oben gebracht und ihr das alles gegeben? Mit »dem allen« meinte sie – und machte dabei eine vage Handbewegung – die große bequeme Wohnung in der Gloucester Avenue, die Ringe an ihren Fingern und den kleinen Mercedes unten am Straßenrand. All das hatte sie ohne das Zutun auch nur eines einzigen Mannes erreicht. Männer hatte es wohl gegeben, aber alle weniger erfolgreich als sie, keiner von
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