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Norden ist, wo oben ist

Norden ist, wo oben ist

Titel: Norden ist, wo oben ist
Autoren: Rüdiger Bertram
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    Es hat auch Vorteile, wenn die eigenen Eltern seit Monaten nicht mehr miteinander reden, denke ich und starre durch die dreckige Fensterscheibe der Autobahnraststätte auf den trostlosen Parkplatz. Meine Eltern hocken da draußen irgendwo in ihren Wagen und warten auf meine Entscheidung.
    Sie wissen ja nicht, was ich weiß: Ich habe mich nämlich längst entschieden.
    Es regnet. Das tut es schon seit Tagen. In Indonesien und Florida ist das Wetter bestimmt besser. Aber das kümmert mich nicht. Ich vertrage Sonne nicht so gut und der Sprühregen passt sowieso viel besser zu meiner grauen Stimmung.
    Durch die Scheibe sehe ich eine Familie mit drei Kindern über den Parkplatz zu ihrem Auto laufen. Alle fünf sind in billige Plastikregenmäntel gehüllt. Darunter tragen sie T-Shirts, kurze Hosen und Sandalen. Ihre Shirts haben alle den gleichen schwachsinnigen Aufdruck: „Hier kommen die Wallenbergs aus Kiel“. Das kann ich sehen, weil die Regenmäntel durchsichtig sind.
    Wie gesagt, es hat auch Vorteile, wenn Eltern geschieden sind. Die Wallenbergs steigen in ihren Kombi und fahren davon, Richtung Süden.
    Die Pommes auf dem Teller vor mir sind längst kalt und es gibt nichts, was ich mehr hasse als kalte Fritten. Halt, das ist falsch. Noch mehr hasse ich es, mit meinen Eltern zu verreisen. Ganz egal, ob mit meiner Mutter oder meinem Vater. In den Ferien sind beide unausstehlich, weil sie in der kurzen Zeit alles ausgleichen wollen, was sie in den letzten Jahren verbockt haben. Dann fragen sie ständig, was ich gerne machen möchte. Dabei möchte ich am liebsten gar nichts tun, aber das verstehen sie nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen haben.
    Ist das mein Problem? Sollen sie sich ruhig ihr Leben lang vorwerfen, dass sie mir meine Kindheit verkorkst haben. Das kann man mit Geld gar nicht wiedergutmachen.
    Na ja, höchstens ein bisschen.
    Wenn meine Eltern richtig arm wären und in einer Hochhaussiedlung wohnen würden, wo die Aufzüge ständig kaputt sind und die Kampfhunde in den Flur pinkeln, wäre ich wahrscheinlich noch schlimmer dran. Aber das ist nur so eine Vermutung. Wissen kann ich das nicht, weil meine Eltern so ziemlich genau das Gegenteil von arm sind. Sogar noch nach der Scheidung.
    „Kann ich die Fritten haben?“
    Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken.
    „Wie bitte?“ Ich blicke auf.
    „Die isst du nicht mehr. Seh ich doch.“
    Die Stimme gehört zu einem Mädchen, das neben meinem Tisch steht und auf meine Pommes starrt.
    „Die sind kalt.“
    „Macht nichts“, erwidert das Mädchen und setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber, sodass ich nicht mehr aus dem verschmierten Fenster sehen kann. Das ist blöd, denn ich will den Augenblick nicht verpassen, wenn meine Eltern in ihren Wagen die Raststätte verlassen.
    „Fritten sind Fritten. Warmes Essen wird total überbewertet“, sagt das Mädchen. Es nimmt sich vier oder fünf der kalten Pommes, tunkt sie in die Majonäse und stopft sie sich alle auf einmal in den Mund.
    „Gibt’s da draußen was umsonst?“, fragt es kauend, weil ich versuche, an dem Mädchen vorbeizusehen.
    Das klappt nicht so richtig. Das Mädchen ist ziemlich groß, auch wenn ich schätzen würde, dass es nicht viel älter ist als ich selbst. Also elfeinhalb, vielleicht zwölf.
    „Nein“, murmele ich, und das scheint als Antwort zu genügen. Das Mädchen isst schweigend weiter, bis auf dem Teller nur noch ein paar Restpommes liegen. Solche mit ekligen schwarzen Stellen, von denen man Krebs kriegt.
    Mein iPhone, das vor mir auf dem Tisch liegt, vibriert. Es ist meine Mutter. Sie wird wissen wollen, ob alles in Ordnung ist. Ich gehe nicht ran. Auch nicht, als sich mein Vater kurz danach wahrscheinlich aus demselben Grund meldet.
    „Auch allein hier?“, fragt das Mädchen.
    Aber das höre ich nur als so eine Art Hintergrundgeräusch, wie Musik im Kaufhaus. Draußen rauscht nämlich gerade mein Vater in seinem Porsche vorbei.
    „Bist du schwerhörig?“, sagt das Mädchen. „Ich hab dich gefragt, ob du auch allein bist?“
    „Wieso?“, frage ich zurück.
    „Du starrst seit einer halben Stunde aus dem Fenster, ohne deine Fritten anzurühren.“
    „Ich weiß, dass ich allein hier bin. Ich wollte wissen, wieso du auch sagst“, entgegne ich und genau in dem Augenblick fährt der Geländewagen meiner Mutter vorüber. Wahrscheinlich hat sie extra etwas gewartet, damit sie sich an der Ausfahrt nicht direkt hinter meinem Vater in den Verkehr auf der Autobahn
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