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Das Katastrophenprinzip.

Das Katastrophenprinzip.

Titel: Das Katastrophenprinzip.
Autoren: Stanislaw Lem
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erstreckt. Unter der Annahme, daß die Geschwindigkeitsdifferenzzwischen Sonne und Spirale sich auf einen Kilometer je Sekunde beläuft, werden wir das nächste Mal in etwa 500 Millionen Jahren in eine Spirale hineingeraten. Soweit die Astrophysik sich mit der Kosmogonie befaßt, geht sie ebenso vor wie das Untersuchungsverfahren in einem Indizienprozeß. Alles, was man zusammentragen kann, ist eine gewisse Zahl von »Spuren und sachlichen Beweisen«, die ähnlich den verstreuten Teilen eines Puzzles (von denen noch viele verlorengegangen sind) zu einem widerspruchsfreien Ganzen zusammenzusetzen sind. Was noch schlimmer ist: Es stellt sich heraus, daß aus den erhalten gebliebenen Fragmenten eine ganze Reihe unterschiedlicher Muster gelegt werden kann. Besonders in dem uns interessierenden Fall ließen sich nicht alle Daten genau quantitativ bestimmen (beispielsweise die Differenz in der Umlaufgeschwindigkeit zwischen Sonne und galaktischer Spirale). Was im übrigen die Spiralarme betrifft, so sind sie keineswegs so geschlossen und so eindeutig und regelmäßig von dem zwischen ihnen liegenden leeren Raum abgegrenzt, wie es unser Schemaandeutet. Und schließlich sind sämtliche Spiralnebel einander nur in dem Maße ähnlich, wie es Menschen sind, die sich in Körpergröße, Leibesfülle, Alter, Rasse, Geschlecht und so weiter unterscheiden. Gleichwohl kommen die kosmogonischen Erkenntnisse über die Milchstraße dem wirklichen Sachverhalt immer näher. Sterne entstehen hauptsächlich innerhalb der Spiralarme; Supernovae explodieren ebenfalls am häufigsten innerhalb dieser Arme; die Sonne befindet sich ganz sicher in der Nähe des Korotationskreises, also nicht »irgendwo« in der Galaxie, denn in der Korotationszone herrschen – wie schon gesagt – andere Bedingungen als in der Nähe des Kerns und an den Rändern der Spiralscheibe. Die Kosmogoniker können mit Hilfe der Computersimulation binnen kurzer Zeit eine Vielzahl von Versuchsvarianten der Astro- und Planetogenese durchführen, wozu vor noch nicht allzu ferner Zeit unendlich mühsame und viel Zeit verschlingende Berechnungen erforderlich waren. Zugleich lieferte die beobachtende Astrophysik ständig neue und immer exaktere Daten für solche Simulationen.Allerdings ist der Indizienprozeß noch im Gange; die sachlichen Beweise und die mathematischen Vermutungen, die auf die Urheber dessen, was geschehen ist, hindeuten, haben mittlerweile die Aussagekraft einer vernünftig begründeten Hypothese und sind nicht bloß haltlose Mutmaßungen. Die Anklage gegen die Spiralnebel, sie seien zugleich Erzeuger und Kindsmörder, ist dem Tribunal der Astronomie vorgetragen worden, die Verhandlung dauert noch an, aber ein endgültiges Urteil ist noch nicht gefällt worden.

III
    Die aus dem Gerichtswesen entlehnte Terminologie ist nicht die schlechteste, wenn wir von der Geschichte des Sonnensystems innerhalb der Galaxie sprechen, denn die Kosmogonie befaßt sich mit der Rekonstruktion von vergangenen Ereignissen und verfährt deshalb wie ein Gericht in einem Indizienprozeß, in dem es keinen durchschlagenden Beweis gegen den Angeklagten gibt, sondern nur eine Reihe von belastenden Umständen.
    Der Kosmogoniker hat – ähnlich wie der Richter – festzustellen, was in einem konkret gegebenen Fall geschehen ist, er muß sich jedoch nicht damit befassen, wie häufig derartige Fälle vorkommen, noch damit, wie groß die Wahrscheinlichkeit des betreffenden Falles vor seinem Eintreten gewesen ist. Im Gegensatz zur Justiz ist die Kosmogonie jedoch bemüht, sehr viel mehr über die Dinge zu erfahren.
    Wenn man eine Sektflasche, also eine Flasche aus dickem Glas und mit einer charakteristischen Einbuchtung am Boden, aus dem Fenster wirft, so wird die Flasche zerspringen, und wenn wir dieses Experiment mehrfach wiederholen, werden wir uns davon überzeugen, daß der Hals und der Boden den Aufprall im allgemeinen heil überstehen, während das übrige Glas in viele Bruchstücke von unterschiedlicher Form zerplatzt. Es kann passieren, daß eines dieser Bruchstücke ein Glassplitter mit einer Länge von sechs und einer Breite von einem halben Zentimeter ist.
    Die Frage, wie oft man beim Zerschlagen einer Flasche genau die gleichen Bruchstücke erhalten wird, läßt sich nicht exakt beantworten. Man kann lediglich feststellen, in wie viele Teilchen zerschlagene Flaschen am häufigsten zerplatzen. Eine solche Statistik läßt sich ohne sonderliche Mühe erstellen, wenn man das
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