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Das Katastrophenprinzip.

Das Katastrophenprinzip.

Titel: Das Katastrophenprinzip.
Autoren: Stanislaw Lem
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Experiment nur viele Male unter gleichbleibenden Bedingungen wiederholt (man hat zu beachten, aus welcher Höhe die Flasche fällt, ob sie auf Beton oder auf Holz fällt, usw.). Es kann jedoch auchpassieren, daß die Flasche im Fallen mit einem Ball, den eines der auf dem Hof spielenden Kinder gerade hochgekickt hat, zusammenstößt, von ihm abprallt und durch das offene Parterrefenster in das Zimmer einer alten Dame fliegt, die sich Goldfische in einem Aquarium hält, in das die Flasche hineinfällt, so daß sie nicht zerbricht und sich beim Untergehen mit Wasser füllt. Jeder wird zugeben, daß ein solcher Fall, mag er auch wenig wahrscheinlich sein, dennoch möglich ist, und so wird denn auch niemand ein übernatürliches Phänomen darin sehen, ein Wunder, sondern lediglich ein außergewöhnliches Zusammentreffen von Umständen. Eine Statistik solcher Ausnahmen ist nun nicht mehr möglich. Außer Newtons Gesetzen der Mechanik und der Stoßfestigkeit des Glases müßte auch berücksichtigt werden, wie häufig Kinder auf diesem Hof Ball spielen, wie häufig der Ball sich während des Spiels dort befindet, wo die Flaschen hinunterfallen, wie häufig die alte Dame ihr Fenster offenläßt, wie häufig das Aquarium am Fenster steht, und ginge es uns um eine »allgemeine Theorie der Flaschen,die durch das Zusammentreffen mit einem Ball ins Aquarium fallen und sich unbeschädigt mit Wasser füllen«, eine Theorie, die sämtliche Flaschen, Kinder, Häuser, Höfe, Goldfische, Aquarien und Fenster berücksichtigen würde, so kann man getrost sagen, daß wir zu einer solchen statistischen Theorie niemals gelangen werden.
    Die für die Rekonstruktion der Geschichte des Sonnensystems einschließlich des Lebens auf der Erde entscheidende Frage lautet: War das, was sich damals in der Galaxie ereignet hat, etwas Ähnliches wie beim einfachen Zerbrechen von Flaschen, das sich statistisch erwarten läßt, oder etwas Ähnliches wie bei dem Abenteuer mit dem Ball und dem Aquarium?
    Phänomene, die statistisch berechenbar sind, gehen nicht plötzlich an einer eindeutigen Grenze, sondern ganz allmählich in statistisch unberechenbare Phänomene über. Die Haltung des Wissenschaftlers ist die eines kognitiven Optimismus, denn er nimmt an, daß die von ihm untersuchten Objekte berechenbar seien. Am schönsten ist es, wenn sie in deterministischer Weise berechenbarsind: Der Einfallswinkel ist gleich dem Reflexionswinkel, ein in Wasser getauchter Körper verliert genau so viel von seinem Gewicht, wie das von ihm verdrängte Wasser wiegt, und so weiter. Ein wenig schlimmer ist es, wenn an die Stelle der Gewißheit die berechenbare Wahrscheinlichkeit tritt. Ganz schlimm ist es aber, wenn sich überhaupt nichts berechnen läßt. Es wird oft gesagt, daß dort, wo man nichts berechnen, also nichts vorhersehen kann, das Chaos herrsche. In den exakten Wissenschaften bedeutet »Chaos« jedoch keineswegs, daß wir überhaupt nichts darüber wissen, daß wir es mit einer Art von »absoluter Unordnung« zu tun haben. Eine »absolute Unordnung« gibt es überhaupt nicht, und erst recht kann bei der beschriebenen Geschichte mit der Flasche und dem Ball von Chaos keine Rede sein; für sich genommen, unterliegt jedes Ereignis den Gesetzen der Physik, und zwar der deterministischen, nicht der Quantenphysik, denn meßbar ist sowohl die Kraft, mit der das Kind gegen den Ball stieß, als auch der Winkel, unter dem Ball und Flasche zusammenprallten, sowohldie Geschwindigkeit dieser beiden Körper in diesem Augenblick als auch die Bahn, auf der die Flasche sich bewegte, nachdem sie von dem Ball abgeprallt war, und schließlich auch die Geschwindigkeit, mit der die Flasche, nachdem sie ins Aquarium gefallen war, sich mit Wasser füllte. Jede einzelne Etappe dieses Geschehens unterlag, für sich genommen, grundsätzlich der Physik und war damit berechenbar, doch die aus allen Etappen zusammen bestehende Serie ist nicht berechenbar (man kann also nicht feststellen, wie häufig das, was in diesem Falle eben geschehen ist, geschehen kann). Das Problem besteht darin, daß sämtliche Theorien »von großer Reichweite«, mit denen die Physik operiert, unvollständig sind, weil sie nichts über die Anfangsbedingungen aussagen. Die Anfangsbedingungen müssen gesondert von außen in die Theorie eingeführt werden. Wenn aber bestimmte Anfangsbedingungen per Zufall exakt erfüllt sein müssen, damit die ebenfalls sehr genau präzisierten Anfangsbedingungen für das nächste
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