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Das geraubte Paradies

Das geraubte Paradies

Titel: Das geraubte Paradies
Autoren: Bernd Perplies
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Kapitel 1
    Der Himmel hatte die Farbe von trübem Wasser angenommen. Dunkelgrau und blau, mit leichtem Grünstich, hingen die schweren Wolken über dem Land. Metallisch klingender Donner krachte in der Ferne, und verästelte Blitze züngelten am Horizont zur Erde. Auffrischender Wind fuhr durch die Kronen der Laubbäume, die sich um ihren Rastplatz erhoben, und sorgte für ein ruheloses Rauschen der Blätter.
    Carya zog mit der linken Hand ihre Strickjacke vor der Brust zusammen, während sie den Blick von dem Sommergewitter abwandte, das sich in einigen Kilometern Entfernung über der flachen Landschaft entlud. Ihre Rechte, in der ein Bleistift lag, schwebte über dem Briefpapier, das sie vorgestern in einer Häuserruine unweit der Straße entdeckt hatte.
    Nachdenklich blickte sie auf das leicht vergilbte Blatt, das auf einem Holztablett auf ihren Oberschenkeln ruhte. Sie war sich unsicher, ob das, was sie vorhatte, so eine gute Idee war. Andererseits hegte sie schon seit Längerem den Wunsch, ein paar Zeilen zu Papier zu bringen, und dieser Wunsch war mit dem Fund des Schreibzeugs beinahe übermächtig geworden. Und so setzte Carya, allen Bedenken des vernünftigen Teils ihres Geistes zum Trotz, den Stift an und begann zu schreiben.
    Liebe Mama, lieber Papa,
    ich schreibe euch diese Zeilen, auch wenn ich nicht weiß, ob sie euch jemals erreichen werden. Aber vielleicht tun sie das ja doch, und dann möchte ich, dass ihr wisst, dass es mir und Jonan und Pitlit gut geht. Ich hoffe, auch ihr seid wohlauf und sicher in Bolonara eingetroffen.
    Carya hielt inne. Hatte sie schon nach wenigen Worten einen Fehler begangen, indem sie den Aufenthaltsort ihrer Eltern nannte? Wenn dieser Brief an der Grenze zur Machtsphäre von Arcadion abgefangen wurde – sofern sie ihn überhaupt jemals würde losschicken können –, wussten die Häscher des Lux Dei, vor denen sie alle nach wie vor auf der Flucht waren, wo sich Andetta und Edoardo Diodato aller Wahrscheinlichkeit nach versteckt hielten. Andererseits musste sie dem Boten ohnehin sagen, zu welchem Ziel er den Brief bringen sollte. Sie riskierte folglich so oder so etwas.
    In der Ferne donnerte es erneut. Es war ein trockenes, hartes Krachen. Mit einem Windstoß wehte der Geruch von Regen herbei. Bald würde das Unwetter auch sie erreicht haben. Carya machte sich deswegen keine Gedanken. An ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort im Laderaum der Lastkutsche saß sie trocken und sicher vor den Elementen. Sollte es ganz schlimm kommen, konnte sie zusätzlich noch die schwere Plane schließen, die über den Metallrahmen des Laderaums gespannt war, auch wenn es dadurch zwischen all den gestapelten Kisten ungemütlich eng wurde.
    Das Fahrzeug, in dessen Inneren sie saß, war einst ein Motorwagen gewesen. Er fuhr jedoch schon lange nicht mehr mit Treibstoff. Stattdessen war der komplette Antrieb ausgebaut worden, um Gewicht zu sparen, und heute zogen ihn zwei kräftige Kaltblüter durch die Lande. Gemeinsam mit fünf anderen bildete das Lastgefährt die Handelskarawane von Ibrahem Mustard, einem braun gebrannten Francianer, der von sich behauptete, bereits den ganzen Kontinent bereist zu haben.
    Seit wir uns in Livorno getrennt haben, ist so viel geschehen. Eigentlich sollte ich euch wohl gar nichts davon erzählen, um uns und euch nicht zu gefährden. Andererseits liegt diese Etappe meiner Reise nun schon wieder hinter mir, sodass es wenig Schaden anrichten kann, wenn ich euch zumindest ein paar Begebenheiten schildere, zumal der Lux Dei uns ohnehin zwischenzeitlich gefunden hat – aber dazu gleich mehr.
    Jonan, Pitlit und sie hatten Mustard zwei Tage nach ihrer Abreise aus Paris getroffen. Er hatte sie mit seinen sechs Fuhrwerken auf der großen Handelsstraße nach Osten eingeholt, und nach einer kurzen Unterhaltung waren sie übereingekommen, gemeinsam bis zu einem Ort namens Dijon zu reisen. Der Händler hatte ihnen dafür ihr letztes Goldstück abgeknöpft, aber das machte Carya nichts aus.
    Jonan und sie hatten die Strecke in ihrem Navigator überprüft und gesehen, dass sie gut die Hälfte des Weges hinter sich hatten, wenn sie in Dijon eintrafen. Es war ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass sie sich zumindest dreihundert Kilometer weit keine Gedanken darüber machen mussten, wo sie Nahrung und ein Dach überm Kopf zum Schlafen fanden, auch wenn sich ihr provisorischer Schlafplatz in einem vollen Laderaum befand. Und wenn sie die Schwarze Zone, den Ort, an dem sich Caryas
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