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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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eine beträchtliche Zahl der Bewohner von Five Points dem Laster und Verbrechen verschrieben hatte, so bestand die Mehrzahl doch aus Leuten, die sich auf ehrliche Art mühten, sich und ihre Familien durchzubringen. In den heruntergekommenen Mietshäusern lebten überwiegend bettelarme Einwanderer aus Irland, Polen, Deutschland und Italien, die sich ein besseres Wohnviertel nicht leisten konnten.
    Seit Jahren verging kein Tag, an dem nicht Schiffe in New York anlegten, deren Zwischendecks mit neuen Einwanderern aus Übersee brechend voll belegt waren. Im Schnitt gingen täglich mehr als fünfhundert, zu manchen Zeiten sogar mehr als tausend Einwanderer in New York an Land, die ihre Heimat wegen Hungersnot, Krieg, religiöser wie politischer Verfolgung oder Konflikten mit dem Gesetz verlassen hatten. Die meisten brachten kaum mehr Besitz mit als das, was in einen Koffer passte und was sie am Leib trugen.
    Die Armut in diesem 6. Stadtbezirk war so groß, dass hunderte seiner Bewohner die übliche Monatsmiete von vier bis fünf Dollar für einen der schäbigen Zwei-Zimmer-Verschläge nicht aufbringen konnten und deshalb in fensterlosen Kellerräumen hausten, wo die Übernachtung nur zwei, drei Cent kostete, die jede Nacht im Voraus zu entrichten waren. In diesen Kellerabsteigen lagen sie dann zu dutzenden dicht gedrängt auf langen Brettergestellen in zwei, manchmal sogar drei Reihen übereinander, umhüllt von einem Gestank aus Rauch, Modergeruch, verfaulendem Abfall, Körperausdünstungen und Fäkalien. Ein Gestank, der noch übler war als der, welcher von den nachlässig errichteten Abortverschlägen in den Hinterhöfen ausging. Dieser ganz eigene, modrige Gestank setzte sich schnell in den Lumpenkleidern der »Kellerratten« fest, wie diese Unglücklichen genannt wurden. Und wer einem von ihnen auf der Straße begegnete, der roch sofort, dass er zu den Kellerratten gehörte. Und die unzähligen Kinder, die vagabundierend auf den Straßen von New York lebten, hießen aus gutem Grund street arabs und dead end kids , weil ihre Lage hoffnungslos war.
    In niedergedrückter Stimmung machte Becky einen Bogen um drei frei laufende Schweine, die der Berge von Abfall auf den Straßen Herr werden sollten, und ging die belebte Park Street nach Westen in Richtung auf die Kreuzung von Five Points hoch. Es herrschte schon reger Betrieb. Auf den Straßen hier kehrte zu keiner Tages- und Nachtstunde wirklich richtig Ruhe ein. Doch gegen Nachmittag, wenn der erste Ansturm auf die Tavernen erfolgte, setzte ein sichtlich geschäftiges Treiben ein, das sich bis gegen Mitternacht steigerte, um erst in den frühen Morgenstunden an Kraft zu verlieren.
    Zeitungsjungen, manche kaum älter als sechs Jahre, eilten mit der Abendausgabe durch die Straßen und riefen in einem fort die reißerischen Schlagzeilen aus. Mit artistischem Geschick und flink wie Wiesel sprangen sie auf die Trittbretter vorbeiratternder Kutschen und Fuhrwerke, um ihre Zeitungen an den Mann zu bringen. Straßenhändler mit Eselwagen, Handkarren oder umgehängten Bauchläden versuchten ihrerseits lautstark, auf sich und ihre Waren aufmerksam zu machen. Ein Scherenschleifer mit seiner rollenden Werkstatt ließ Funken von seinem kreischenden Schleifstein sprühen, während er am Straßenrand das lange Messer eines stiernackigen Kerls mit tätowierten Oberarmen und geteertem Zopf schärfte, der nicht den Eindruck machte, als ginge er einer ehrbaren Arbeit nach. Ein Kesselflicker rumpelte mit seinem Karren vorbei. Mädchen und kleine Jungen, die zum Heer der dead end kids gehörten, bettelten die Passanten an, ihnen Federkiele oder Streichhölzer zu einem Penny das Päckchen abzukaufen. Alte Frauen mit ausgemergelten Gesichtern hockten mit einem Korb vor den Eingängen zu Häusern und Geschäften im Dreck der Straße und boten Äpfel, gekochte Maiskolben, gebündelte Kienspäne und andere Billigwaren zum Kauf an. Ein grauhaariger Schwarzer mit zwei großen Steinkrügen suchte Kunden für seine Buttermilch, ein anderer Schwarzer versuchte, ein wenig Geld mit Strohbündeln zu machen, die zum Füllen von Schlafsäcken gedacht waren. Denn richtige Matratzen, die vielleicht sogar noch mit Rosshaar gefüllt waren, vermochte sich keiner in diesem Viertel zu leisten. Betrunkene torkelten krakeelend aus Tavernen, und die Straßenprostituierten stellten sich in Pose, um Kunden anzulocken. Zwei barfüßige und in Lumpen gekleidete Jungen, die kaum älter als zwölf, dreizehn sein konnten,
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