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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Dreieck der Mission Place, einem freien, ungepflasterten Platz, der häufig einer Müllhalde glich, stand das klobige Backsteinhaus der Five Points Mission. Sie war vor nicht ganz zehn Jahren von der Lady’s Methodist Home Missionary Society gegründet worden und hatte sich ebenfalls die Bekämpfung der Armut auf ihre Fahnen geschrieben - mit sehr bescheidenem Erfolg. Die meisten irischen wie italienischen und polnischen sowie viele deutsche Einwanderer standen dieser methodistischen Hilfsorganisation nämlich sehr distanziert, ja teilweise sogar feindselig gegenüber, weil man ihrem katholischen Glauben in diesem Missionshaus mehr oder weniger offen mit Verachtung begegnete. Zudem machte im Viertel das Gerücht die Runde, dass die Missionare Waisen und von ihren Eltern vernachlässigte Kinder von der Straße lockten, sie in Züge steckten und irgendwohin ins ferne, neu besiedelte westliche Hinterland brachten, wo sie als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden.
    »Ob es mit Dad wohl bald wieder besser wird?«, fragte Daniel.
    »Bestimmt. Das mit seiner Hüfte ist schon so gut ausgeheilt, dass bald nichts mehr daran erinnern wird«, sagte Becky, denn sie brachte es nicht übers Herz, ihrem kleinen Bruder jegliche Hoffnung auf eine Besserung ihrer Lage zu rauben. »Und vielleicht kriegt er ja bald feste Arbeit beim Streckenbau. Eisenbahnschienen verlegen soll gut bezahlt werden.«
    »Ich wünsche es uns so sehr«, sagte Daniel niedergeschlagen und sein Blick ging kurz zum House of Industry hinüber. »Ich wünschte auch, wir könnten wieder in die Schule gehen und etwas lernen.«
    Damit berührte er bei Becky einen wunden Punkt, denn auch sie litt insgeheim sehr darunter, dass sie nicht länger die Schule besuchten. Und wann hatte sie das letzte Mal ein Buch in der Hand gehabt? Ewigkeiten lag das zurück. Und dabei war sie doch immer eine leidenschaftliche Leserin gewesen! Was hätte sie nicht dafür gegeben, wenigstens eine dieser Abendklassen besuchen und sich Hoffnung machen zu dürfen, irgendwo in einem gediegenen Haus fern von Five Points in Stellung gehen zu können.
    Nicht dass sie sich Illusionen über das harte Leben machte, das sie dann erwartete. Ein Dienstmädchen begann seine Arbeit morgens zwischen fünf und sechs Uhr und kam vor acht, neun Uhr abends nicht zur Ruhe. Aber diese harte Arbeit hätte sie nicht geschreckt. Im Gegenteil, das anstrengende Tagwerk eines einfachen Dienstmädchens erschien ihr immer noch um einiges leichter zu ertragen, als täglich zwölf und mehr Stunden am Tisch zu sitzen und in endloser Monotonie Hemden für die Greeleys zusammenzunähen. Und sie würde eine saubere Dienstmädchenkleidung mit weißer Haube und Schürze tragen, jeden Tag ausreichend zu essen haben und in einem Haus leben, in dem das Auge nicht überall auf Schimmel und Tapeten aus vergilbten, rissigen Zeitungen fiel, sondern auf schöne Möbel, Spiegel, Vorhänge, Teppiche, richtiges Geschirr und andere wunderbare Sachen.
    Ihr Verlangen nach einem Leben als Dienstmädchen machte sich wie ein intensiver körperlicher Schmerz bemerkbar. Aber sofort kämpfte sie gegen diese brennende Sehnsucht an. Für eine Ausbildung blieb nun mal keine Zeit. Es gab auch keine Alternative. Sie musste weiterhin mit der Mutter bis tief in die Nacht Hemden für Eleanor und Homer Greeley zusammennähen, damit ihre Not nicht noch größer wurde. Und wenn einem das Wasser bis zum Hals stand und man ums nackte Überleben kämpfte, war es geradezu lächerlich und nur beschwerend, sich darüber zu beklagen, nicht in einem trockenen Boot zu sitzen!
    »Die Dinge sind nun mal so, wie sie sind! Und darüber zu lamentieren, bringt uns nicht aus der Klemme, Daniel!«, erwiderte Becky mit scharfer Missbilligung, die nicht nur ihrem Bruder, sondern auch ihren eigenen Sehnsüchten galt. »Es könnte noch viel schlimmer sein! Seien wir froh, dass wir unsere eigene Wohnung haben, uns über Wasser halten können und nicht das Leben von Kellerratten und street arabs führen müssen!«
    »Du hast ja Recht, Becky. Ich will auch gar nicht jammern. Es war nur so ein Gedanke«, sagte Daniel hastig und senkte beschämt den Kopf.
    Wenig später erreichten sie die Centre Street und traten durch den hohen Torgang in den Hinterhof, wo sich der Textilhandel von Eleanor und Homer Greeley befand. In eine Wand des schuppenähnlichen Backsteinanbaus waren zwei längliche Fenster eingelassen, die von Sprossenleisten in viele kleine Quadrate unterteilt wurden. Das
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