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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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    A UGENBLICKLICH wallte Angst in ihr auf, als Becky Brown die polternden Stiefelschritte auf dem Etagenflur ihres Mietshauses hörte.
    Sie registrierte das Geräusch sofort, obwohl es doch nur eines von vielen in dem brodelnden Lärm war, der mit dem Gestank aus den Straßenschluchten aufstieg, aus den hoffnungslos überbelegten Wohnungen unter und über ihnen drang und der das berüchtigte New Yorker Einwandererviertel Five Points 1 bei Tag und bei Nacht wie eine aufgewühlte See mit nie erlahmender Kraft umbrandete.
    Es war das vertraute Geräusch, das ihr sagte, dass der Vater gleich in der Tür stehen würde! Und wieder einmal kehrte er viel zu früh am Nachmittag zurück, um dauerhafte Arbeit in den Docks an der Waterfront von Hudson und East River oder auf einer Baustelle gefunden zu haben.
    Frustration und ohnmächtige Wut klangen deutlich aus dem harschen Aufstampfen seiner klobigen Stiefel heraus. Mit Beklemmung nahm Becky Brown auch den unregelmäßigen Rhythmus seiner Schritte wahr, der ihr so viel über sein körperliches Befinden und seinen Gemütszustand verriet, als hätte sie in sein Gesicht geschaut. Sie sah seine verbissene Miene förmlich vor sich. Der Vater hatte offenbar wieder Schmerzen in seiner linken Hüfte, denn er zog das linke Bein hörbar nach. Und wenn ihn Schmerzen quälten, suchte er sie mit Alkohol zu betäuben. Mit viel Alkohol.
    »Becky, um Himmels willen, pass auf! Der Schweiß!«, rief die Mutter im selben Moment erschrocken. »Gleich tropft er dir aufs Hemd! Und dann gibt es Ärger mit Missis Greeley! Du weißt doch, wie genau sie es nimmt!«
    Gerade noch rechtzeitig hob Becky den rechten Unterarm und wischte sich den Schweiß von Kinn und Stirn, bevor er auf das Hemd tropfen konnte, das sie gerade für Eleanor und Homer Greeley zusammennähte.
    Vier Cent bekamen sie für jedes fertige Hemd. Doch für jeden Fleck und jede schlecht genähte Naht zog ihnen Eleanor Greeley einen Cent ab. So was konnte schnell passieren, wenn man bei der Arbeit nicht höllisch aufpasste. Besonders zwischen neun Uhr und Mitternacht, wenn die Mutter und sie nach zehn, zwölf Stunden Näherei mit der Müdigkeit kämpften und kaum noch die Augen offen halten konnten. So manche Naht musste dann wieder vorsichtig aufgetrennt und neu gesetzt werden. Denn sie brauchten jeden Cent, seit sich der Vater im letzten Herbst beim Einsturz eines Baugerüsts an der Hüfte schwer verletzt und dadurch seine feste Arbeitsstelle in der Baukolonne von Mister Keegan verloren hatte.
    »Der Vater kommt!«, sagte Becky leise, als sich die Stiefelschritte ihrer Wohnungstür näherten.
    »Ich weiß«, murmelte die Mutter und beugte sich noch tiefer über ihre Arbeit.
    Doch Becky bemerkte sehr wohl, dass sie schluckte und dass ihre sonst so bewundernswert ruhige Nadelhand plötzlich zitterte.
    Brütende Augusthitze lag über New York und in dem Mietshaus in der Mulberry Street mit seinen ein Fuß dicken Ziegelsteinwänden staute sich die Hitze wie in einem Backofen. Die Mutter und sie saßen in der Küche, die der Familie tagsüber auch als Wohnraum sowie nachts ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Daniel und ihr, Becky, als Schlafstätte diente. Sie hatten den Tisch an das weit geöffnete Fenster gerückt, um besser Luft zu bekommen. Aber viel Erleichterung hatte es ihnen nicht gebracht. Dafür nahmen sie jedoch den Gestank deutlicher wahr, der den Aborten in den Hinterhöfen entströmte und wie eine pestilenzartige Wolke über dem Einwandererviertel Five Points hing.
    Eigentlich bestand ihre ganze Wohnung nur aus diesem einen Raum, der nur etwas mehr als vier Schritte im Quadrat maß. Denn bei dem zweiten Zimmer der schäbigen, schimmelbefallenen Wohnung handelte es sich um eine winzige, fensterlose Kammer, die gerade genug Platz für das Bett der Eltern und die alte, schmale Kommode bot. In der Küche machten ein Tisch mit vier Stühlen, ein gusseiserner Herd, mehrere selbst gezimmerte Wandborde und zwei Holzleisten mit Eisenhaken für die wenigen Küchenutensilien die ganze Einrichtung aus. Die mit Stroh und Lumpenfetzen gefüllten Jutesäcke, auf denen Daniel und sie, Becky, nachts schliefen, wurden tagsüber einfach aus dem Weg und in eine Ecke geschoben. Und das Wenige, was sie an Lebensmitteln besaßen, fand bequem Platz in den beiden Lattenkisten neben der Herdstelle.
    Aber wie froh sie vor sieben Jahren gewesen waren, als sie nach der quälend langen Überfahrt im überfüllten Zwischendeck des deutschen
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