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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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kamen angetrunken über die Straße. Jeder von ihnen schwenkte eine Flasche Gin, und niemand schenkte dieser Szene besondere Beachtung, gehörte sie doch zu den alltäglichen Bildern von Five Points. Aber auch gut angezogene Männer und Frauen gehörten zu der wogenden Menge, denn mit der Armut ließ sich ein gutes Geschäft machen, wenn man nur skrupellos genug war. Und natürlich strömten jetzt auch die vielen fingerfertigen Taschendiebe jeden Alters und beiderlei Geschlechts, die das Viertel zu ihrem Jagdrevier erkoren hatten, auf die Straßen und in die Tavernen.

5
    W OHL noch nie was von Platzmachen gehört!«, murmelte Becky verdrossen, als sie einem Straßenhändler ausweichen musste, der mit seinem Bauchladen voll Kurzwaren mitten auf dem Gehsteig stehen geblieben war und eine Kundin bediente.
    Der Mann antwortete mit einer obszönen Geste, was die Frau, die in seinem Bauchladen kramte, zu einem heiseren Auflachen veranlasste.
    Im nächsten Moment sah Becky zu ihrer Überraschung ihren kleinen Bruder. Daniel saß auf der obersten Stufe einer kurzen Treppe, die zu einem Hauseingang hochführte. Offensichtlich hatte er auf sie gewartet.
    »Da bist du ja!«, rief er erleichtert, als sie in dem Menschengewimmel kurz vor der Kreuzung vor ihm auftauchte. Er sprang auf und lief zu ihr. »Komm, ich helfe dir. Wir tragen den Sack zusammen.«
    Becky nahm das Angebot gern an, zumal der Sack auf der Schulter ihre Sicht in dem Gedränge und Geschiebe sehr beeinträchtigte. »Okay, nimm du die Schlaufe vorn, ich nehm die hintere.«
    »Bist du auch wütend auf mich?«, fragte Daniel leise und mit ängstlichem Unterton.
    »Warum sollte ich denn wütend auf dich sein?«
    »Na, weil ich doch auf dem Dach eingeschlafen bin und man mir die beiden Bettlaken gestohlen hat«, sagte er mit verzagter Miene.
    »Ach Daniel«, sagte Becky und hätte ihm zum Trost am liebsten über sein schwarz gelocktes Haar gestrichen. Aber der Hemdensack baumelte zwischen ihnen und machte diese Geste der Zuneigung unmöglich.
    »Ich habe wirklich versucht, wach zu bleiben!«, beteuerte er. »Stein und Bein hätte ich darauf geschworen, dass ich nicht einschlafen würde. Und dann ist es mir doch passiert. Es tut mir so Leid, dass ich euch alle so bitter enttäuscht habe und... und ein solcher Nichtsnutz bin. Es stimmt wohl, was der Vater gesagt hat, dass ich zu nichts tauge und nie etwas Rechtes...«
    »Red doch nicht so einen Unsinn!«, fiel Becky ihm ins Wort. »Dem Vater ist das in seinem Ärger nur so herausgerutscht. Du weißt doch, wie gereizt er ist, wenn er tagelang keine Arbeit gefunden hat. Dann sagt er Dinge, die er eigentlich gar nicht so meint!«
    Daniel erwiderte traurig: »Ich fürchte, er meint jedes Wort so, wie er es gesagt hat. Und du weißt es auch.«
    Becky fühlte sich durchschaut. »Und wenn schon! Dann hat er eben Unrecht! Ich bin dir wegen dieser blöden Bettlaken jedenfalls nicht böse - und Mom auch nicht. Also lass dir bloß nichts von Vater einreden!« Und mit wachsendem Ingrimm fuhr sie fort: »Er selbst ist nämlich nicht gerade ein leuchtendes Vorbild, dem man nacheifern sollte. Für das Geld von dir, das er jetzt wohl schon bei Slocum in Bier umgesetzt hat, hätte er leicht zwei gebrauchte Laken kaufen können! Ganz zu schweigen von unserem Hemdengeld, das er auch noch auf den Kopf hauen wird.«
    »Dennoch wünschte ich, ich wäre kräftig und gescheiter und nicht so eine Enttäuschung für Dad.«
    »Hör auf, dir so was einzureden! Und jetzt komm über die Straße!«
    Sie überquerten die Kreuzung. Zu ihrer rechten Hand erhob sich das House of Industry, ein klobiges Gebäude, das auch spöttisch »Lumpenschule« genannt wurde. Diese von Spenden getragene Institution widmete sich nämlich jenen Waisen und Straßenkindern, deren Kleidung zu zerlumpt und dreckstarrend war und die zu sehr stanken, um öffentliche Schulen besuchen zu können. Hier erhielten sie Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen. Auch wurden ältere Jugendliche und Erwachsene in diesem Haus abends in die Grundlagen einfacher beruflicher Tätigkeiten eingewiesen. Bei den Mädchen und Frauen konzentrierten sich die Ausbilderinnen auf Fertigkeiten im Nähen sowie auf das, was man beherrschen musste, um Chancen auf eine Anstellung als Dienstmädchen zu haben. Den Jungen und Männern brachte man einfache Schreinerarbeiten wie das Herstellen von Kisten sowie Flickschusterei oder das Verlegen von Pflastersteinen bei.
    Auf der anderen Seite, getrennt vom
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