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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Geld für Lebensmittel, und einen Teil müssen wir in die Dose für die nächste Miete zurücklegen!«, beschwor die Mutter ihn. »Du kannst das Geld nicht in die Taverne tragen. Daniels Nägelgeld...«
    Mit einem schnellen Schritt war der Vater bei ihr und hob drohend die Hand. »Willst du mir Vorschriften machen?«, schrie er sie an.
    Die Mutter senkte demütig den Kopf. »Nein, natürlich nicht, Frederik«, murmelte sie, duckte sich unter der erhobenen Hand hinweg und zog hastig den großen Weidenkorb aus der Ecke, in dem sie die fertigen und sorgfältig gefalteten Hemden aufbewahrten.
    Becky ging ihrer Mutter schweigend zur Hand. Gemeinsam teilten sie die Hemden in zwei Pakete zu je einem Dutzend auf, banden behutsam um jeden Stapel eine hellblaue Kordel, legten die restlichen fünf obenauf und wickelten die ganze Lieferung in ein großes sauberes Leinentuch, das die Mutter in einem kleinen Beutel aufbewahrte, damit ja kein Dreck und Staub an das Tuch kam. Eleanor Greeley nahm es mit ihrer Ware sehr genau und liebte es noch mehr als ihr Mann Homer, etwas bemängeln und dafür einen empfindlichen Abzug berechnen zu können. Dann schoben sie das Ganze in einen Sack aus gewachstem Segeltuch, dem auch ein Regenschauer oder Schneefall im Winter nichts anhaben konnte.
    »Mach voran!«, drängte der Vater gereizt.
    Becky wuchtete sich den Sack, der wegen des steifen Segeltuchs ein ordentliches Gewicht besaß, auf die linke Schulter. Zum Glück war es zum Geschäft von Homer und Eleanor Greeley auf der Centre Street nur etwas mehr als eine Meile.
    »Pass gut auf, Kind!«, ermahnte die Mutter sie und schenkte ihr einen stummen, beschwörenden Blick. »Und sei höflich zu Missis Greeley, auch wenn sie zu Unrecht irgendetwas beanstandet und uns Abzüge berechnet! Streite bloß nicht mit ihr, hörst du? Wir sind darauf angewiesen, dass wir auch weiterhin für sie und ihren Mann arbeiten können.«
    Becky verstand den versteckten Hinweis und nickte. »Ja, Mom, ich werde mein Bestes tun«, versprach sie.
    »Nun beweg dich schon!« Der Vater schob sie durch die Tür, die er mit einem lauten Knall hinter sich zuzog.

3
    W ÄHREND die brennende Augustsonne am Himmel stand und ihr gleißendes Licht auf New York warf, herrschte im Treppenhaus eine Dunkelheit, als wäre urplötzlich die Nacht hereingebrochen. Und zwar eine Nacht ohne jegliches Licht von Mond und Sternen.
    Nicht nur in diesem Mietshaus, sondern auch in all den anderen billig hochgezogenen Mietskasernen von Five Points glichen die Treppenhäuser nachtschwarzen Abgründen, die man über gefährlich steile, krumme und oftmals lebensgefährlich schadhafte Treppen mit unregelmäßigen Stufenabständen bezwingen musste. Es gab keine Beleuchtung, welcher Art auch immer. Die von keinen Skrupeln geplagten Hausbesitzer, die möglichst viel Profit aus ihren Mietshäusern herauspressen wollten, dachten gar nicht daran, dafür auch nur einen einzigen Dollar auszugeben, und die Mieter waren zu arm, um selbst für Leuchten sorgen zu können. Auch am sonnigsten Sommertag fiel nicht ein einziger Strahl Tageslicht in diese finsteren Treppenhäuser. Nicht nur ältere Bewohner, die wie die alte Nelly Boyd oben im fünften Stock nicht mehr so gut auf den Beinen waren, tasteten sich vorsichtig die Treppen hoch und hinunter, sondern jeder bewegte sich auf den steilen Treppen mit größter Vorsicht. Wenn man sich außerdem noch mit einem vollen Ascheneimer, Einkaufskorb oder einem Wäschesack abplagen musste, bedeutete der Gang durchs Treppenhaus eine noch größere Mühsal und Gefahr. Deshalb waren schwere Stürze und gebrochene Knochen keine Seltenheit.
    Wer es sich leisten konnte, machte sich Licht mit Zündhölzern oder nahm gar eine brennende Kerze mit. Doch das taten die wenigsten. Denn wer in diesen Mietskasernen mit ihren beklemmend engen und dunklen Wohnungen hauste, in denen der Schimmel über die Tapeten aus altem Zeitungspapier wucherte, hatte guten Grund, warum er ausgerechnet in Five Points und nicht in einem besseren Viertel von New York lebte. Und bei den meisten war dieser Grund schlichte materielle Not.
    Becky ging zögernd den Flur hinunter und zählte ihre Schritte, während sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten. Bis zum fünfzehnten Schritt hatte sie nichts zu befürchten, danach jedoch musste sie Acht geben und sich an das Treppengeländer herantasten, das an manchen Stellen schon beängstigend knarrte und unter dem Druck der Hand ein wenig
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