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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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können. Sie wusste auch, dass die Mutter log und sie sehr wohl ein Versteck hatte, wo ein kleiner Beutel mit Münzen lag. Es befand sich, wie sie einmal zufällig beobachtet hatte, in der elterlichen Schlafkammer unter dem lockeren Bodenbrett mit dem kleinen Astloch. Das hintere rechte Bein der Kommode stand auf diesem Brett. Viel konnte in dem Beutel nicht sein, aber es war Mutters Notgroschen, falls der Hunger einmal zu groß wurde oder mal wieder ein Dollar für die Miete fehlen sollte.
    »Ich warne dich!«, zischte der Vater.
    »Ich habe wirklich nichts versteckt, und wenn du mich grün und blau schlägst! Ich schwöre es bei der seligen Jungfrau und Gottesmutter!«, stieß die Mutter verängstigt hervor. Andererseits war sie fest entschlossen, lieber Schläge zu ertragen, als ihm ihren Notgroschen auszuhändigen und das mühsam zusammengesparte Geld noch in dieser Nacht an die Schankwirte von Five Points zu verlieren. Und was den falschen Schwur betraf, so vertraute sie in ihrem tiefen Glauben darauf, dass die Muttergottes ihr in ihrer unendlichen Güte und Barmherzigkeit diese Sünde nicht nur gnädig verzieh, sondern die Lüge zum Schutz der Familie sogar billigte.
    Der Vater sah sie grimmig und mit unschlüssiger Miene an. Er wusste nicht, ob er sie schlagen sollte, weil er ihr nicht glaubte - oder ob er ihr glauben und sie dennoch schlagen sollte, um seiner Wut und Ohnmacht Luft zu verschaffen.
    »Aber Daniel hat noch das Geld, das er sich heute mit dem Sammeln von Nägeln verdient hat!«, fiel es der Mutter noch rechtzeitig ein, und hastig sprach sie weiter: »Er wollte es mir sogleich geben, als er zurückkam, aber ich war da gerade mit der Bettwäsche beschäftigt. Er war ganz stolz. Ich glaube, er hat über einen Shilling 2 zusammenbekommen. Du weißt ja, dass er heute Morgen schon vor Sonnenaufgang losgezogen ist.«
    Becky fühlte sich trotz der angespannten Situation versucht, ein spöttisches Auflachen von sich zu geben. Denn was die Mutter »Sammeln von Nägeln« nannte, war in Wirklichkeit glatter Diebstahl. Daniel hatte sich in ihrer Not zu jenen Kindern aus dem Armenviertel Five Points gesellt, die sich auf Großbaustellen herumtrieben und sich in Lagerhäuser schlichen, um dort Nägel oder anderes Eisen zu stehlen. Nur wer gute Augen besaß sowie flink und schnell auf den Beinen war, hatte Chancen, den Wurfgeschossen, Prügeln und Fäusten wütender Bauarbeiter oder Lageraufseher unbeschadet zu entkommen. Und der Lohn der Angst bestand in einem Cent für jedes Pfund Nägel, das der Schrotthändler in ihrem Viertel zahlte. Einfaches Alteisen brachte sogar noch weniger. Um also mit einem Shilling in der Tasche nach Hause zu kommen, musste ihr achtjähriger Bruder Daniel demnach zwölfeinhalb Pfund Nägel zusammengestohlen haben.
    »So! Und wo ist der Bursche jetzt mit dem Geld?«, fragte der Vater misstrauisch.
    »Oben auf dem Dach«, sagte die Mutter. »Ich habe unsere beiden Bettlaken gewaschen. Er passt auf, dass sie uns nicht von der Wäscheleine gestohlen werden.«
    Wäsche jeder Art, auch wenn sie noch so verschlissen war, konnte man in Five Points nicht unbeaufsichtigt lassen, schon gar nicht, wenn man zu jenen Mietern gehörte, die nach vorn zur Straße hinaus wohnten und daher keinen Anspruch auf eine der wenigen Wäscheleinen im Hinterhof besaßen. Die Wäschediebe, die oft in Banden arbeiteten, kamen mit Vorliebe über die Flachdächer der Backsteinhäuser. Und Wäsche einfach aus dem Fenster zu hängen, war nicht ratsam. Zu oft schütteten Bewohner aus den oberen Etagen Dreckwasser, manchmal sogar auch den Inhalt von Nachttöpfen einfach aus dem Fenster, egal ob unter ihnen jemand Wäsche herausgehängt hatte. Die alte, zahnlose Nelly Boyd, die mit ihrer versoffenen Tochter über ihnen im fünften Stock wohnte, machte das sogar regelmäßig. Und sie war nicht die Einzige, die keinen Anstand kannte und nichts auf das Geschimpfe der anderen Bewohner gab.
    »Ich laufe hoch und hole Daniel!«, bot Becky sich an.
    Der Vater hielt sie mit einer unwirschen Handbewegung zurück. »Ich gehe schon selbst zu ihm hoch. Seht ihr lieber zu, dass ihr mit eurer Näharbeit vorankommt!«
    Becky hatte eine empörte Erwiderung auf der Zunge. Als ob sie beide nicht bis zum Umfallen schufteten! Diese elende Plackerei würde ihre Mutter, die in den letzten beiden Jahren erschreckend grau und hager geworden war, noch mal weit vor ihrer Zeit ins Grab bringen! Obwohl noch keine dreißig, sah sie doch schon wie
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