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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Autoren: Rainer M. Schroeder
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geben.
    Homer holte indessen drei Pakete aus dem Lager hinter der Ladentheke. Jedes enthielt die vorgeschnittenen Stoffteile für ein Dutzend Hemden.
    »Und wenn es dir nicht passt, was ich zahle, dann such dir gefälligst woanders Arbeit!«, fuhr Eleanor drohend fort, die fleischigen Arme in die breiten Hüften gestemmt. »Es gibt genug andere, die sich die Finger danach lecken, für mich nähen zu dürfen! Also nimm dein Geld und mach, dass du aus meinem Laden kommst!«
    »Nein, nein!«, stieß die Frau hervor, rang verzweifelt die Hände und erniedrigte sich noch mehr vor ihr, um eine noch größere Katastrophe abzuwenden. »So habe ich es nicht gemeint, Missis Greeley! Bitte entschuldigen Sie, wenn ich den Eindruck erweckt habe, Ihnen für die Arbeit nicht dankbar zu sein...«
    »Eine schöne Dankbarkeit ist das!«, blaffte die Händlerin. »Aber ich will noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen!«
    Becky fühlte sich elend und zugleich von ohnmächtiger Wut erfüllt, wusste sie doch genau, was in dieser armen Person vor sich ging. Der Frau war bewusst, dass Eleanor ihre Notlage schamlos ausnutzte, aber sie war abhängig von ihr und musste den schändlichen Betrug widerstandslos hinnehmen. Sie vermochte ihre Familie von dem erbärmlichen Hungerlohn nicht anständig zu ernähren, konnte jedoch auch nicht darauf verzichten, wenn aus den täglichen Entbehrungen nicht dauerhafter Hunger und nacktes Elend werden sollten.
    Hastig schob Becky die drei verschnürten Pakete in ihren Sack und beeilte sich, dass sie aus dem Laden kam, denn sie konnte die Selbsterniedrigung der gedemütigten Frau und die hämische Genugtuung auf dem Gesicht der Ladeninhaberin nicht länger ertragen. Zu oft hatten ihre Mutter und sie selbst Ähnliches erlebt. An vieles gewöhnte man sich ja, aber Eleanor Greeleys Willkür und Bösartigkeit gehörten nicht dazu.
    Mit dem Sack auf der Schulter lief Becky zwischen zwei schweren Fuhrwerken über die dicht befahrene Centre Street, bog in die Park Street ein und begegnete dort einem Zeitungsjungen, der gerade einen Stapel druckfrischer Zeitungen auf seinen linken Arm wuchtete. Als ihr Blick im Vorbeigehen zufällig auf das Datum fiel, stutzte sie, blieb stehen und sah noch einmal hin. Aber sie hatte sich nicht verlesen. Es war die Abendausgabe vom 26. August 1856.
    »Ist was?«, fragte der Junge überrascht, dass sich ein Mädchen wie sie für Zeitungen interessierte. »Willste vielleicht eine Zeitung kaufen?«
    »Nein, wovon auch?«, sagte Becky, und während sie schon weiterging, sagte sie vor sich hin: »Ich habe nur gelesen, dass heute mein zwölfter Geburtstag ist!«

7
    A UF dem Heimweg traf Becky auf ihre einstige Schulkameradin Mildred Connelly, die in einer Seitengasse der Mulberry Street wohnte. Sie waren einmal so etwas wie gute Freundinnen gewesen und hatten manchmal zusammen gespielt, wenn die Mütter ihnen mal eine freie Stunde gewährt hatten. Aber diese Zeit erschien ihr jetzt so fern, als gehörte sie, so wie ihre Kindheit auf dem ärmlichen Bauernhof westlich von Köln und die Überfahrt auf dem Auswandererschiff, zu einem völlig anderen Leben. Damals hatte der Vater noch regelmäßig Arbeit gehabt und einen guten Lohn nach Hause gebracht, sodass sie und Daniel zur Schule gehen konnten. Bei Mildred war es ähnlich gewesen. Allerdings hatte sich Mildreds Vater vor zwei Jahren eines Tages klammheimlich mit dem letzten Geld davongestohlen und seine Frau mit zwei jungen Töchtern im Elend von Five Points zurückgelassen. Und seitdem hing Mildreds Mutter an der Flasche, wie Becky gehört hatte.
    Mildred saß auf einer der beiden Tonnen, die der Besitzer vom Mermaids & Barrels rechts und links vom Eingang seiner Taverne aufgestellt hatte, und spielte mit ihren goldblonden Locken, um die Becky sie immer beneidet hatte. Die dicken, mit Sand gefüllten Fässer hatte der Schankwirt mit bunten, vollbusigen Meerjungfrauen bemalen lassen, um auf sein Etablissement aufmerksam zu machen. Mittlerweile hatten Wind und Wetter die primitiven Malereien stark angegriffen und verblassen lassen. Dass der Schankwirt sie nicht erneuern ließ, hing damit zusammen, dass er längst keine Werbung mehr für seine zwielichtige Spelunke zu machen brauchte, genoss doch das Mermaids & Barrels weit über die Grenzen des Viertels hinaus den zweifelhaften Ruf, den besten Branntwein und die jüngsten Prostituierten von ganz Five Points im Angebot zu haben.
    »Mildred! Wie schön, dich mal wiederzusehen!«, rief
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