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Die fünfte Kirche

Die fünfte Kirche

Titel: Die fünfte Kirche
Autoren: Phil Rickman
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Die Einheimischen
    Betty war entschlossen, den Deckel so lange wie möglich auf der ganzen Sache zu halten, und so, wie sie sich in letzter Zeit fühlte, bedeutete das wahrscheinlich: für immer.
    Das alte Kästchen war ihr dabei keine Hilfe.
    Es war auf den Stufen des Hintereingangs von St.   Michael aufgetaucht, ein paar Tage, nachdem sie in das Bauernhaus gezogen waren, und eine Woche nach Bettys siebenundzwanzigstem Geburtstag. Nicht gerade die Art Geschenk, über die sie sich freute. Es schien eher eine unverhohlene Drohung zu sein – oder zumindest zu bestätigen, dass ihr neues Leben wohl kaum das Idyll werden würde, das Robin erwartete.
    Betty hatte an diesem seltsamen Abend schon Minuten vorher eine erste Ahnung gehabt – falls man eine solche Erfahrung Ahnung nennen konnte.
    Das neue Jahr war förmlich über sie hereingebrochen, Wind und Regen zausten immer noch die Hügel. Heute Abend allerdings war alles ganz still und rein und eisenhart vom Frost, und Robin hatte Betty überredet, mit ihm auf den Kirchturm zu steigen – auf
ihren
Kirchturm   –, um den strahlenden Sonnenuntergang zu betrachten.
    Sie war zum ersten Mal hier oben und das erste Mal überhauptnach Einbruch der Dunkelheit in der Kirche. Es war noch nicht einmal fünf Uhr, aber Ende Januar kam die Dämmerung in Radnor Valley immer noch früh – und so würde es bis Mariä Lichtmess bleiben. Robin beugte sich weit über die wackelige Brüstung, um auch noch das letzte Blutrot des sonst makellosen Himmels zu sehen.
    «Wir sollten mal wieder den Mond herunterschütteln», raunte er versonnen.
    Vor ihnen lag der Forst: finstere Bilderbuchhügel mit Bärten aus Farnkraut. Es gab nur wenige Bäume – die Bezeichnung Forst war irreführend und bezog sich auf die mittelalterliche Bedeutung eines Gebietes, in dem man jagen kann. Betty fragte sich, was davon wohl noch stattfand: Hasenjagd, Dachshetze? Vielleicht würde Robin eines Abends hier oben stehen und eine Gruppe stiller Männer mit Gewehren und Hunden sehen. Dann wäre die Kacke aber am Dampfen.
    «Und, äh   –», Robin richtete sich auf und klatschte sich Moos von den Händen, «wie wär’s?»
    «Du meinst – jetzt?» Betty strich sich mit beiden Händen ihre wilden blonden Haare aus dem Gesicht. Sie trat von der Brüstung zurück, die sie an den Tod von Major Wilshire erinnerte. Unten, ungefähr zwei Meter vom Fuß des Turms entfernt, waren neben einem windschiefen Busch zwei vor langer Zeit umgesunkene Grabsteine freigelegt worden. Genau dort war er wahrscheinlich aufgeprallt. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. «Du meinst
hier draußen

    Robin zuckte mit den Schultern. «Warum nicht?» Er trug seine orangefarbene Fleecejacke und auf dem Kopf dieses lächerliche flachgedrückte Fez-Ding, das rundum mit winzigen Spiegeln besetzt war. So wie Betty es sah, musste Robin Thorogood, der in Amerika aufgewachsen war, sein Gefühl für das Absurde erst noch entwickeln.
    «Warum
nicht
?» Betty wusste nicht mehr, bei welcher Gelegenheit ‹den Mond herunterschütteln› sein persönlicher Euphemismusfür Sex geworden war, sie mochte diesen Ausdruck jedenfalls nicht besonders. «Weil wir, wie dir vielleicht entgangen ist, Januar haben?»
    «Wir könnten doch Decken holen.» Robin setzte seinen Dackelblick auf.
    Aber das zog bei Betty nicht mehr. «Meine Güte, weißt du, wie gefährlich das ist? Guck dir mal den Boden an   … und die Wände! Wir würden in dem verdammten Glockenstuhl enden, in einer riesigen Staubwolke, mit tausend Knochenbrüchen, und was
dann

    «Ach, komm schon. Der Turm steht hier seit sechs   … nein, seit
acht
Jahrhunderten. Nur weil   –»
    «Und verfällt seit Jahrzehnten langsam, aber sicher!»
    Betty griff nach einer Zinne, ließ sie aber, erschrocken, sofort wieder los, als sich der Mörtel – oder was auch immer die mittelalterlichen Maurer benutzt hatten – darunter zu bewegen schien. Offenbar konnte der ganze Turm jeden Moment einfach zerbröckeln; ein Typ aus dem Ort hatte nach einer flüchtigen Prüfung gesagt: «Ach, solange ihr darauf achtet, dass er niemanden unter sich begräbt, seid ihr auf der sicheren Seite.» Sie sollten eigentlich einen zuverlässigen Bauunternehmer holen, der alles mal gründlich untersuchte, bevor sie auch nur über ein Picknick hier oben nachdachten. Falls sie sich jemals einen Bauunternehmer würden leisten können.
    Robin stand wie ein Krieger aus alten Zeiten mit dem Rücken zur untergehenden Sonne, und
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