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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Autoren: Stephanie Fey
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1.
    Er schloss die Augen, und ihr Gesicht verschwand. Er wusste, dass er sie mit jedem Tag mehr und mehr verlor. Je stärker er sich ihr Bild in Erinnerung rief, desto mehr verblasste es. Nur die Wärme ihrer Haut spürte er noch, das leichte Kribbeln in den Fingerspitzen, als er ihren langen, glatten Hals gestreichelt hatte, die feinen Härchen auf und ab. Die wohligen Geräusche, die sie von sich gegeben hatte, mehr Tier als Mensch, bis er ihr beide Hände um den Hals legte und zudrückte, bis das Leben aus ihr herausgepresst war.
    Er musste sie sich zurückholen.
    Nach Einbruch der Dunkelheit durfte hier niemand mehr sein. Niemand außer ihm. Bei Tag musste er sich den Garten mit allen Münchnern teilen, auch wenn es zum Jahresende ruhiger wurde. Doch kurz vor Morgengrauen gehörte er ihm ganz allein. Das warmgelbe Licht der Laternen, seiner Laternen, erhellte das Pflaster. Die hohen Bäume, seine Bäume, reckten ihre kahlen Äste in den Nachthimmel, wiesen ihm wie mit Vogelkrallen den Weg.
    Unter dem großen Spinnennetz grub er hastig, sank schon bald tiefer und tiefer. Nun war er froh, nicht das Labyrinth gewählt zu haben. Auch wenn es ein würdigerer Platz für sie gewesen wäre. Doch unter den Mulchwegen zwischen den verschlungenen Hecken waren die Wurzeln so dicht, dass er die Buchen nie mehr unbeschädigt auf ihr Grab hätte zurückpflanzen können.
    Je näher er zu ihr gelangte, desto heftiger pochte sein Herz. Es schlägt für uns beide, dachte er, hauchte in die klammen Finger und schaltete die Stirnlampe an. Er faltete die karierte Decke auseinander. Ihr Gesicht war platt und verzerrt. Vorsichtig schlitzte er mit dem Taschenmesser die knisternde Folie auf. Die Süße ihres Mädchenduftes strömte ihm entgegen. Er sog sie tief in sich ein und hielt dann inne. Etwas Fauliges hatte sich daruntergemischt. Und wer hatte ihr die Wimpern weiß getuscht? Er betrachtete sie genauer. Auch in den Nasenlöchern und Mundwinkeln hing etwas Weißes. Sandkörner? Hatte er sie nicht fest genug umwickelt? Er zupfte die Klümpchen weg, rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger und richtete den Strahl der Lampe darauf. Winzige längliche Eier waren es, die sich nur schwer zerdrücken ließen. Es musste doch längst zu kalt sein für diese Viecher; keinesfalls durften die schlüpfen und ihm die Liebste stehlen. Er musste sich beeilen. In Gedanken war es leichter gewesen, doch immerhin blutete nichts mehr. Es waren viele Einschnitte nötig, die Haut löste sich nur in Stücken. Was sollte er mit diesen Fetzen bloß anfangen, sie etwa wie ein Puzzle zusammenfügen? Und wohin damit? Er hatte keine Tüte dabei, und die Folie war aufgebraucht. Besser wäre ein Buch gewesen, worin er ihr Gesicht hätte trocknen können wie eine Blüte.
    Ein Schrei hallte durch die Stille. Sofort schaltete er die Stirnlampe aus. Für Hundebesitzer und Jogger war es noch zu früh. Im Sommer übernachteten Penner und Pärchen im Park, trotz des Verbots . Aber jetzt, Ende November? Er lauschte, verharrte im Loch, hörte nur den ewigen Verkehrslärm, ein fernes Hupen. Stimmen hinter einem der Fenster aus den Häusern ringsum. Vermutlich ein Familienstreit irgendwo. Hoch über ihm blinkte ein Flugzeug. Die Stadt schlief nie.
    Vor Aufregung war seine Hand unter die Folie gekrochen, hatte nach den eisigen Fingerspitzen seiner Liebsten getastet und hielt sie nun. Sie fühlten sich glitschig an, zwei Fingernägel hatten sich bereits gelockert. Hastig begann er mit der Säge seines Taschenmessers zu schneiden, zerrte und drehte am Gelenk. Endlich, mit einem Knirschen, löste sich ihre Hand.
    Er atmete auf. Wenigstens das war ihm gelungen. Beim nächsten Mal würde er das Gesicht konservieren, noch bevor seine Liebste starb.

Erster Tag
    Ich schaue den Leuten in die Seele, nicht ins Gesicht.
    Paul Britton, britischer Kriminalpsychologe

2.
    Zweiundzwanzig Monate später
    Vergeblich suchte Carina in der Ankunftshalle am Flughafen die Reihe der Wartenden ab. Ihre Schwester hatte versprochen sie abzuholen. Die Maschine aus Mexiko-Stadt mit Zwischenstopp in Frankfurt war mit einer halben Stunde Verspätung gelandet. Also musste Wanda längst da sein.
    Sie stellte ihre Reisetasche ab und massierte sich den Nacken. Erst einmal durchatmen. In ihren Ohren rauschte es, wie immer, wenn sie sich längere Zeit fast unbeweglich in einem beengten Raum befunden hatte. Obwohl sie nur einen Meter siebzig groß war, war sie gebeugt durch die Schleusen vom Flugzeug bis zur
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