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Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann

Titel: Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Autoren: Arnulf: Zitelmann
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|7| Religion, ein erstes Wort
    Religion ist ein schrecklich allgemeines Wort. Ich gebe es in die Suchmaschine ein, und auf dem Bildschirm erscheinen unsortiert
     Thai-Tempeltänzerinnen, Rosenkranzgebete, Ufos, Malcolm X und Martin Luther King, Selbstmordattentäter, die magischen Bildgalerien
     der Eiszeitjäger von Lascaux, Judenstern und Halbmond, St. Paul’s Cathedral, Sexismus, tibetanische Räucherstäbchen. Ich könnte
     nächtelang weitersurfen und käme an kein Ende. Unmöglich! So viel passt in kein einzelnes Wort. Doch ein besseres habe ich
     auch nicht.
    Mir fällt die Begegnung mit einer Dame ein, der ich als Student aus meinem Studium erzählte, Philosophie und Theologie. Ich
     vergesse den Blick nicht, als sie mir sagte: »Sie sind doch ein vernünftiger junger Mann, wozu haben Sie Gott nötig?« Ich
     war verlegen, und meine Antwort weiß ich nicht mehr. In Europa und in der ganzen westlichen Welt sind Gott und Vernunft, Religion
     und Wissenschaft unüberbrückbare Gegensätze. Jahrhundertelang ist darüber im Abendland endlos gestritten worden. Was würde
     ich heute, nach all den Jahren, der Frau antworten? Ich brauche einen Rasierapparat, eine Zahnbürste und meine Pfeife, aber
     einen Gott brauche ich nicht.
    Ich bin frommer Atheist. Atheisten nannte man im römischen Weltreich die Christen, weil sie an keine Gottesbilder glaubten.
     Das tue ich auch nicht. Gottesbilder sind ein Notbehelf, eher harmlos also. Klammert man sich daran, werden sie gefährlich.
     Deswegen bin ich Atheist, aber ein frommer. Ohne dieses Gefühl der Frömmigkeit möchte ich nicht leben, nicht einen Augenblick.
    Beim Stichwort Religion höre ich hupende Hochzeitsautos, tibetanische Tempelmusik und Glockenspiele aus Holland, sehe Kardinalspurpur
     in Rom, im Iran die schwarzen Turbane der Mullahs, in das Kirchlein vor meinem Arbeitszimmerfenster tragen Eltern ihr Kind
     zur Taufe, buddhistische Mönche verbrennen sich in Vietnam, das Fernsehen überträgt einen Gottesdienst für Tiere, zeigt kirchliche
     Entwicklungshelfer, die in Eritrea Brunnen bohren. Religionen gibt es weltweit, sie kommen aber nicht miteinander aus. Sie
     schließen |8| Bündnisse mit der staatlichen Macht, zwischen Thron und Altar, eine brisante Mischung! Ich lese von mordenden Kreuzrittern,
     aber Franz von Assisi, der Vater der Franziskanermönche aus dem 13. Jahrhundert, predigte den Vögeln und wusch das faulende
     Fleisch von Leprakranken. All das ist Religion, auch das Lehrhaus des Konfuzius in China, die Kaaba in Mekka, die Klöster
     auf dem Berg Athos in Griechenland, die Stupas mit den Reliquien Buddhas, die Synagogen, der Kölner Dom. Ich rieche Papier,
     sehe Tinte fließen, Druckpressen arbeiten. Und dann fällt mir Hildegard von Bingen ein, die heilkundige Mystikerin des Mittelalters.
     Mystik ist Religion ohne Worte. So wie Hildegard dachten viele intelligente, weise Frauen. Aber Religion ist männerzentriert,
     weltweit, sei es im Buddhismus, Judentum, Christentum oder im Islam. Gott erbarme dich! Und dieses ganze Konglomerat von Ritualen,
     Institutionen, Rechtgläubigen und Ketzern heißt Religion. Was habe ich damit zu tun? Gar nichts. Oder doch? Wie auch immer,
     in mein Gefühl lasse ich mir von niemandem hineinreden.
    Meine Mutter Helene betete abends mit mir am Kinderbett: »Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: Dies Kind
     soll unverletzet sein.« Laut mitgebetet habe ich, und dieses Gefühl, das ich damals dabei empfand, ist mir nie abhanden gekommen:
     Die Gewissheit, im Letzten unverwundbar zu sein, angstfrei leben zu können.
    Die Existenzialisten des vorigen Jahrhunderts machten die »Geworfenheit« als menschliche Situation aus. Albert Camus beschrieb
     sie in seinem »Mythos von Sisyphos« als »Verstoßensein ohne Ausweg«. Der Mensch ist einfach da und muss mit diesem Dasein
     fertig werden, so wie Sisyphos, der den Stein den Berg hinaufrollte, aber niemals oben ankam, weil der Stein immer wieder
     hinunterfiel und er von vorn anfangen musste. Ich habe eine schwierige Biografie, einen Katastrophenslalom sozusagen, doch
     die Einstellung von Camus teile ich nicht. Viel stärker empfinde ich die Tatsache, dass ich mich einer endlosen Reihe von
     glücklichen Zufällen verdanke. Jeder, der neben mir in der S-Bahn sitzt, kann sein Leben bis auf den Urknall zurückführen.
     Als vor 15 Milliarden Jahren in den ersten drei Minuten des kosmischen Prozesses jene atomaren Bausteine
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