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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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herannahenden Wasser gefangen bin. Lio streckt die Zunge aus dem Hals und isst Schneeflocken. Den runden Bauch streckt sie weit von sich, und da fällt mir auf, dass ich nie gesehen habe, wie sie ihn umfasste, ihn streichelte und rieb, wie schwangere Frauen das tun. Und ich begreife, dass dieser Bauch und das Wesen darin ein Teil von Lio sind, den sie sich nicht durch behutsame Kontaktaufnahme aneignen muss, sondern dass er zu ihr gehört mit einer Selbstverständlichkeit, die keiner Erklärung bedarf, nichts Besonderes ist. Und deshalb besonders. Ich drücke mein Gesicht in die nasse Mütze, froh darüber, dass Lio nicht allein bleiben würde, sondern dass das Seepferd mit ihr leben und sterben würde. Die Zunge tentakelt in der Winterluft, als suchte sie die Zukunft, als tastete sie die Leere der Welt ab.
    Beruhigt wende ich mich ab und beginne den Aufstieg. Aus der Steilküste quillt ein Schlickschleimrinnsal, eine stinkende Kloake, die quatschend meinen Fuß umschließt. Ächzend reiße ich mich los, suche nach Griffen für die Hände, finde Strandgras und winzige Kiefernschößlinge, beginne zu klettern und gewinne schnell an Höhe. In meinen Ohren dröhnt es Konnypapakonnypapa, und ich sehe nach unten. Das Mädchen ist verschwunden, da ist nur tosende Brandung, die sich krachend gegen die Küste wirft und ihren Teil für heute wegfrisst. Ich klettere, sehe nicht zurück, fühle mit jedem Tritt, mit jedem Griff die Last leichter werden, als rutschten Steine aus dem Tragsack, den ich viel zu lang schon schulterte, als lösten sich die Bänder, die mich eingeschnürt haben, eineinhalb Jahrzehnte lang. Leichtigkeit auf den Schultern, Leichtigkeit ums Herz. Und heller Himmel über mir. Es soll verschwinden in der trüben, salzigen Flut, mit der es an einem braunen Frühlingsnachmittag ins grelle Licht eines Kreißsaals gespuckt worden ist, im dunkelgrünen Goldfischteich gedümpelt ist, in den scharfkantigen Kristallschluchten einer Amethystendruse versehrt worden ist, mich im Lichterdreieck des herannahenden Zugs weggerissen hat – das Soldatentum des unverlangten Vaterdaseins. Es ersäuft in den grün schäumenden Wellen, während ich desertiere in diesen hellen Winterhimmel hinein. Kein Zweifel. Keine Reue.
    Ich klettere schräg gegen die Steile an, behutsam, stetig, als mir taumelig wird. Tief atmen, warten, dass der Schwindel nachlässt, doch wird er stärker, und hinzu kommt ein Sog, der mich nach unten dreht. Ich klammere mich an die Wand und warte. Hänge erstarrt an einem brüchigen Steilhang aus Sand, auf halber Höhe zwischen der gefräßigen Brandung und der Kante, an der das Land abbricht. Zwischen Tod und Freiheit. Panik packt mich. Reglos verharre ich, in die Wand gekrallt. Schneeflocken treiben vorbei, ich höre sie leise lachen. Die Brandung leckt und frisst. Die Wellen tosen, und in ihnen höre ich einen einzelnen langen Ruf. Ich sehe nach oben, und mir scheint, als verschwände in diesem Augenblick ein purpurroter Fleck hinter der Kante, da, wo der sichere Waldboden wartet. Ich löse die kältesteifen Finger und greife nach einem Kiefernschößling über mir, ziehe den Fuß nach, greife mit der anderen Hand in eine Mulde, kralle mich fest, löse den andern Fuß, ramme ihn in den festgebackenen Sand, bis ich ein wenig Stand bekomme. Ich klettere jetzt ohne zu denken, kralle mich an jedes bisschen Vegetation, das dieses Kliff zusammenzuhalten scheint, stochere im Leeren, finde wieder Tritt, klimme langsam und rieche den Schnee, den feuchten Sand. Bis ich die Kante packen, mich an ihr hochziehen und darüberwuchten kann. Zitternd liege ich im weichen Gras und sehe in die Kiefernkronen über mir, sie schwanken leise, als sprächen sie zu mir. Über die Schläfen rinnt mir das Wasser ins Haar. Ich wälze mich von der Kante weg und bleibe bäuchlings liegen, die Nase im weichen Bett aus Kiefernnadeln, Sand und Gras.
    Es ist bereits dunkel, als ich die nassen Füße spüre und die Kälte, die mir über die Schenkel in die Hüften kriecht. Ich sehe nach unten. Da ist keiner. Ich bin allein, bin es immer gewesen. Langsam erhebe ich mich, klopfe den Dreck ab und gehe schnell durch den lichter werdenden Wald von der Küste weg, immer geradeaus, höre bereits nach wenigen Metern das Meeresrauschen nicht mehr, sehe keinen Unterschied mehr zwischen dem Wald, der vor, und dem, der hinter mir liegt. Wald erstreckt sich weglos, schwarz und ohne Ende vor mir. Rasch eile ich vorwärts, spüre die Kälte nicht mehr,
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