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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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wieder verengt auf die Gesteinsbrocken der Häuserzeilen, die Geröllhalden in den Gesichtern der Passanten, trete ich aufs Pedal, lasse die alte Karre vorwärtsspringen, um zwei Wagenlängen weiter vorn mit abgewürgtem Motor wieder zu stehen. Rote Ampel. Grauer Alltag. Keine gute Idee, die Reise an einem Montagmorgen zu beginnen.
    Ich stelle mir vor: Dessau, Berlin, Stettin. Das Kind stiefmuttergleich in den Urwald einer Großstadt stellen, unter einem gemurmelten Vorwand weggehen und, unauffällig zunächst, dann hastig das Weite suchen. Oder aber, es weggeben, aussetzen in der Natur wie ein Tier, eine nicht lebensfähige Kreatur. Und zurückschlüpfen in ein ganz normales Leben. Vakuum im Hirn, Schwärze, Gedankenstille. Da kommt nichts mehr. Mein Denken wird, wenn nicht angehalten, so doch überwältigt von der Aussicht auf eine dumpfe, dumme, alltägliche, eintönige Existenz, ein mittleres Leben, das nichts mehr braucht oder fragt, das einfach ist. So ein kleines unscheinbares Leben scheint mir jetzt gerade recht. Dem alten Lied aus Selbstbedauern und Wehleidigkeit ein Ende setzen und auch dem geheimen Adel des Auserwähltseins, diesem › Das eben zeichnet die Besten aus‹.
    Worauf es jetzt ankommt, ist Geschwindigkeit. In Bewegung bleiben, schnell und schneller fahren, endlich wieder rasche Entschlüsse fassen, sie ohne zu zögern umsetzen, zielstrebig sein, in unhinterfragtem, routiniertem, eiligem Tun, das jeder kennt, das alle verbindet, es sei denn, sie sind winzig noch oder schon uralt oder eben blöd wie wir. Stattdessen Staus und Stockungen und eine Hemdchenplastiktüte, die im Föhnwind kreiselt, rote Welle quer durch die Stadt und die Ameisen des Zweifels, die schon jetzt durch mein Hirn eilen auf der Suche nach Lücken und Spalten in der Gewissheit meines plötzlichen Entschlusses.
    Ein glänzendes Band, diese Blechschlange, die sich über die Hochbrücke wälzt, über die sich verschränkenden und wieder lösenden Stahlstränge der vom Steckengewirr der Strom- und Signalmasten begleiteten Geleise. In der Autoschlange das Mädchen und ich im Stillstand, während unter uns die S-Bahnen und Fernzüge in den Hauptbahnhof zischen oder aus ihm herausstoßen. Wir schieben uns im Kriechgang von der Brücke und den Hang hinauf, der Autobahn zu. Drängelei und ungeduldige Spurwechsel, sobald sich in der stockenden Kolonne Lücken öffnen, raumverdrängendes Fahrgebaren schwarzer Panzerlimousinen. Weiße Lichteraugen der entgegenkommenden Fahrzeuge, ein festgefahrener Blechwurm, auch sie. Die Fenster der rußgeschwärzten Fassaden halten die Rollladenlider halb geschlossen. Selbst in der Zähflüssigkeit dieses Montagmorgens wirkt mit Ungeduld die Welt des Geschwinden, Flinken, Wuseligen, der ich nicht mehr angehöre. Wegen ihr. Wegen Lio. Ohne dass ich es bemerkt hätte, war ich zusammen mit dem Kind aus dem Effizienzstreben der Eilwelt herausgefallen, und als ich es bemerkt hatte, ließ es mich zunächst ungerührt. Maßstäbe, die für einen selbst nicht mehr gelten, berücksichtigt man nicht mehr, nimmt sie nicht einmal mehr wahr. Es kommt vom Kind, hab ich mir zuerst gedacht, diese Nichtzugehörigkeit. Besonders für einen Vater, der das Muttersein probiert und sich tastend darin einrichtet. Einrichten muss. Es ist ja nichts mehr gegangen wie bislang, nichts hat sich in mein bestehendes Leben eingefügt. Nichts hat sich mit zärtlichem Griff ineinander verschränkt, nichts hat ohne Weiteres geklappt, vor allem nicht die alltäglichen Routinen, zu denen doch jedes Zusammenleben gravitiert. Vom Wickeltisch bis zum Gang in den Supermarkt, von den durchwachten Nächten, den vielen Stunden des Umhergehens mit dem schreienden Bündel auf dem Arm, von den erbrochenen Milchpfützen und gelb verkackten Windeln, dem süßen Geruch am verschorften Flaumhaarschädel, von der Keule der ungebetenen Ratschläge aus der rot-weiß geringelten Welt der Hochleistungsmütter fehlte nichts – und nichts hatte mit einem Leben zu tun, wie ich es bis dahin gekannt hatte. Wie wir beide, Paule und ich, es bis dahin gekannt hatten. Paule hat sich in den wenigen Wochen, die sie noch bei uns war, unentwegt daran gerieben und gestoßen, sie hat sich verweigert und ist schließlich gegangen. Einfach so.
    Der vor mir bremst, zieht los, schert aus, fädelt sich vor mir wieder ein, bremst mich aus, ich zerdrücke hässliche Worte zwischen Zunge und Zähnen, »Was hast du gesagt?«, fragt es augenblicklich von der
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