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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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Rückbank.
    »Nichts«, sage ich und sehe sie im Rückspiegel lächeln. Himmelherrschaft, fahren will ich. Und lächle ebenfalls. Schlote blasen Rauchschwaden verbrannten Abfalls in den Morgen, die Spange des Autobahnzubringers auf Stelzen biegt sich über die Fahrbahn, windet sich um sich selbst und verliert sich unter uns. Hupen. Zwei Frauen mit sehr weißen Zähnen dichtauf. Sie fuchteln. Die Autobahn verbreitert sich auf vier Spuren, wir nehmen Fahrt auf, eine Absperrung drängt uns wieder zusammen und zwingt uns zurück ins Schritttempo. Lio lehnt an der Scheibe mit offenem Mund. Die Frauen schieben sich in Zeitlupe vorbei, in weiß geränderter Fingernagel zeigt auf uns, sie reden was, lachen. Baumaschinen mit Greifarmen bearbeiten den Bewuchs des Mittelstreifens, wühlen im Laub niedriger Hecken, Geruch von geschnittenem Grünzeug und Diesel. Endlich sind wir auch daran vorbei, und alles beginnt zu wuseln. Ich setze den Blinker, wechsle ganz nach links und trete das Gaspedal durch. Blank poliert die Landschaft vor mir, knarrendes Schnarchen hinter mir. Ich stelle mir mein Leben ohne das Mädchen vor. Dass ich einzeln sein würde, dass ich in der Menge verschwinden würde. Ein vages Bild der Unscheinbarkeit. Ich werde den Fuß nicht mehr vom Gas nehmen, bis ich das Meer riechen kann.

2
    Als Paule aus Paris zurückkam, hatte sie das Kind nicht mehr bei sich. Ich saß am Zeichenbrett und hörte, wie die Wohnungstür ging, wie sie den Schlüssel ablegte, in ihrem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich schloss. Nach einer Weile fiel mir die Stille auf, und da dachte ich, dass es am Kind liege, dass es schlafe, vielleicht. Erst als ich Stunden später zu ihr ging, bemerkte ich, dass Paule allein war. Dass das Kind weg war.
    Sie lag auf dem Bett und starrte an die Decke.
    »Wo ist die Kleine?«, fragte ich. »Was hast du mit dem Kind gemacht?« Paule gab keine Antwort, und ich sah mich im Zimmer um, als könnte ich es in einer Ecke oder unter dem Schrank finden. Unser Kind war weg, und ich hatte das Gefühl, ich müsste angstvoll oder besorgt sein, doch was ich empfand, war lediglich ein dumpfes Ziehen unter dem Brustbein, das man auch Erleichterung hätte nennen können.
    Es war ein kühler Maiabend, vor dem Fenster regnete es, und unten auf der Straße ging die rosa Wolke mit wiegenden Hüften auf und ab. Sie trug wie jeden Abend ihre Arbeitskleidung, eine pinkfarbene Jacke aus Kunstfaserpelz, Absatzstiefel aus Lackleder und Netzstrumpfhosen. Über die Schultern rieselte das blonde Haar ihrer Perücke. Als sich ihr silbergrauer Regenschirm zum dritten Mal unter den Platanen am Ende ihres Laufstegs verlor, setzte ich mich zu Paule aufs Bett und nahm ihre Hand, die den Druck nicht erwiderte. Es war still zwischen uns. Die Straßenlampe warf orangefarbene Lichtstreifen auf den Boden.
    »Sag schon, wo ist das Kind?« Verwundert hörte ich den drohenden Unterton in meiner Stimme. Paule lag stumm wie eine Steinfigur auf einem Sarkophag, selbst ihre Atemzüge waren nicht zu hören, und in der Stille ihrer ungesagten Erleichterung konnte ich am kaum zu vernehmenden Klicken der Wimpernkränze hören, wie sich ihre Lider öffneten und schlossen. Plötzlich kam die Angst. Vom Steißbein ausgehend, stieg sie wie ein Wasserpegel, überspülte die Eingeweide, erreichte die Lungenflügel, füllte den Brustraum, zwängte sich durch den engen Trichter der Kehle und presste mir das Gehirn zusammen. Ich packte Paule und rüttelte ihren mageren Körper.
    »So rede schon, sprich mit mir. Was ist passiert? Was hast du getan?«
    Es klopfte hinter meinen Augen. Paule sah mich nicht an. Sie starrte an die Decke, und ein dünnes Lächeln kräuselte sich in einem Mundwinkel, das war alles.
    Wütend sprang ich hoch, riss das Fenster auf und beugte mich hinaus in den Regen. Im Haus gegenüber gingen hinter den Scheiben Menschen umher, gestikulierten und sprachen miteinander oder mit der Birkenfeige, während sie sie wässerten. Von meinen Fensterausblicken kannte ich sie alle, doch auf der Straße grüßten wir einander nicht. Zwischen den Platanen glänzte der nasse Asphalt. Die rosa Wolke stieg aus dem Auto eines Freiers und stöckelte wankend über den Gehsteig.
    Lio war erst vier Wochen alt, als Paule mit ihr nach Paris fuhr, angeblich um Freunde zu besuchen: Du kennst sie nicht. Angeblich um Abstand zu bekommen: Ich muss mal raus hier. Sie steckte das Baby ins Tragetuch und wandte mir den Rücken zu, damit ich die Bänder verknotete.
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