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Die Nacht des Satyrs

Die Nacht des Satyrs

Titel: Die Nacht des Satyrs
Autoren: Elizabeth Amber
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    1
    Venedig, Italien
Im September 1823
    J ordan veränderte ihre Haltung auf dem Holzstuhl, auf dem sie in sorgfältig arrangierter Stellung posierte, so dass der Stoffüberwurf, der das schäbige Möbel bedeckte, zu Boden rutschte.
    Das Kohlestück des Künstlers verharrte mitten in der Bewegung.
    »Sia tranquillo!«, rief er barsch. »Ihr müsst still sitzen!«
    »Ihr habt gut reden!«, murmelte Jordan, die den Überwurf aufhob und versuchte, ihn wieder so wie vorher hinzudrapieren. »Ich sitze hier schon so lange in derselben Stellung, dass ich steif wie die Rute eines Matrosen bin.«
    Der Künstler ballte seine kohleverschmierten Finger. »Taci! Silenzio, vulgäres Geschöpf! Niemand zwingt Euch, herzukommen und Euch auf solch schamlose Weise abbilden zu lassen.« Wieder schabte die Kohle über die Leinwand auf seiner Staffelei.
    »Nein, gewiss nicht«, bemerkte Jordan verdrossen. »Ich genieße es über die Maßen, mich porträtieren zu lassen.«
    Der Künstler warf ihr einen prüfenden Blick zu, als wollte er hinter ihre Maskierung schauen, weil ihm urplötzlich aufging, dass sie Gefühle haben könnte. Doch sogleich wischte er jedwede Sorge um sie mit einer Handbewegung fort.
    »Was Ihr auch solltet«, entgegnete er, »denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ich mich zu dieser Arbeit herablasse. Ich habe die vornehmsten Familien Venedigs porträtiert – die Töchter der Patricellis, die Söhne der Tucheros, ja, sogar die Nachkommen der Medici!«
    »Wie eindrucksvoll!«
    Er nickte und machte sich seufzend wieder an die Arbeit. »Um keinen Preis werde ich den Namen Vito Mondroli in den Schmutz ziehen, indem ich ihn unter die heutigen Arbeiten setze. Dessen versichere ich Euch.«
    »Was Euch wohl niemand übelnähme«, pflichtete Jordan ihm bei. Allerdings schienen ihre Worte ungehört im Raum zu verhallen. Ein Künstler bei der Arbeit war nun einmal kein unterhaltsames Gegenüber. Gähnend linste Jordan durch die Öffnungen ihrer vergoldeten Bauta-Maske. Wie erschöpft sie sich fühlte!
    Letzte Nacht hatte sie wieder den Traum gehabt. Wie immer war er in drei Abschnitte unterteilt gewesen; anders als die drei Akte eines Theaterstückes handelte es sich um einzelne Bilder, die in keinerlei Verbindung zueinander standen.
    Als Erstes war das langohrige braune Kaninchen gekommen.
    Als Zweites spritzten Blutstropfen auf ihren Schenkel.
    Dann, als Drittes und Letztes, erschienen die Bänder, sieben an der Zahl, in allen Farben des Regenbogens. Sie flatterten ihr aus einem Gewitterhimmel entgegen, lockten sie wie wilde verlängerte Finger. Sie näherten sich, um ihre Wangen seidig weich zu necken und zu streicheln. Hätte sie doch nur nach ihnen greifen können, damit die Bänder sie aus dem Unwetter in Sicherheit brachten, dem Glück entgegen!
    Derselbe Traum hatte sie in jeder Nacht der vergangenen Woche heimgesucht, so dass sie sich heute ungewöhnlich müde fühlte. Bald würde sie wissen, was die Bilder bedeuteten. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr hatte sie solche Träume, die ihr vage Andeutungen künftiger Ereignisse bescherten.
    Inzwischen war später Nachmittag, und Jordan wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie nach Hause zurückkehren und in ihr Bett dürfte. Doch es standen ihr noch viele Stunden bevor.
    Etwa ein Dutzend theatralisch vollführte Kohlestriche später rupfte Vito Mondroli das Leinwandviereck von seiner Staffelei und drehte es zu ihr.
    »Alsdann, was sagt Ihr?« Er klang, als würde ihn tatsächlich scheren, wie ihre Meinung zu seinem Werk lautete.
    Jordan neigte ihren Kopf zur Seite und betrachtete die Zeichnung. »Ich denke, meine Mama wird es sich wahrscheinlich über den Kaminsims im großen Salon mit Blick auf den Campo hängen.«
    Mondroli riss entsetzt die Augen auf.
    »Ich scherzte«, beruhigte sie ihn, rollte die Schultern und streckte ihren Rücken. Dieser Mann besaß fürwahr keinen Humor!
    Er drehte die Leinwand wieder zu sich und sah sie sich aufmerksam an. Dann schaute er misstrauisch zu ihr auf.
    »Mich täuscht Ihr nicht«, sagte er und kratzte sich mit dem Finger über seinen Nasenrücken, wobei er dort einen schwarzen Schmierstreifen hinterließ. »Ihr mögt vorgeben, Euch nicht zu schämen, mit einem solchen Leib gestraft zu sein. Aber ich möchte wetten, dass Eure Wangen unter der Maske tief gerötet sind.«
    Er hatte recht. Jordan
schämte
sich – jedoch nicht ihres Leibes, sondern vielmehr des Umstands, wie er zur Schau gestellt
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