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Die Nacht des Satyrs

Die Nacht des Satyrs

Titel: Die Nacht des Satyrs
Autoren: Elizabeth Amber
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Inspektion war sie dem Publikum frontal zugewandt, in der halb liegenden Stellung, die Salerno sie vor Jahren gelehrt hatte. Sie stützte beide Arme hinter ihrem Rücken auf, ihre Ellbogen gegeneinandergedrückt und die Hände flach auf dem Tisch. Auf diese Weise bog ihre Brust sich dem Licht entgegen. Ihre Knie waren angewinkelt und weit gespreizt. Salerno wollte, dass jene Merkmale ihres Körpers, die nicht zusammenpassen wollten – die Brüste und der Phallus – besonders gut zur Geltung kamen.
    Wie immer ging ein Raunen durch den Saal.
    »Anomalie. Monstrosität. La Maschera«, wurde geflüstert.
    La Maschera – die Maske. So hatte Salerno sie wegen der Bauta getauft, die Jordan trug, um ihre Identität zu verhüllen. Er fand, dass diese Bezeichnung seinem wertvollen Ausstellungsstück eine Aura des Mysteriösen und Faszinierenden verlieh.
    Die Zuschauer in den hinteren Reihen standen auf, um besser sehen zu können, und reckten die Hälse. Alle waren ganz erpicht darauf, einen Blick auf sie zu erheischen: auf die Missgeburt, die Salerno ihnen versprochen hatte.
    Und wie üblich waren die Zuschauer in überwiegender Zahl Männer der Medizin, die einzig im Interesse des wissenschaftlichen Studiums hergekommen waren. Aber natürlich waren auch solche gekommen, die angenehm erregt werden oder amüsante Anekdoten sammeln wollten, mit denen sie fürderhin ihre Bekannten unterhalten konnten.
    Inspiriert durch Jordans Andersartigkeit, würden einige der Gaffer in den hintersten Reihen sich nach einer Weile stumm in ihre Sitze fallen lassen. Ihre Hände, verborgen unter Hüten oder Mänteln in ihrem Schoß, würden dann emsig an ihren Schwänzen arbeiten.
    Genau genommen war die heutige Vorführung exakt die Sorte Veranstaltung, die manche von Jordans wilderen männlichen Freunden hier in Venedig reizte. Ihr graute vor dem Tag, an dem sie bei einem dieser alljährlichen Spektakel ins Publikum schaute und Paulo oder Gani unter den Zuschauern erblickte.
    Ihre größten Bewunderer unterdessen waren früh genug eingetroffen, um sich Plätze in der vordersten Reihe zu sichern. Sie waren diejenigen, die Jordan insgeheim ihre »Verehrer« nannte. Die Gruppe selbst hatte sich LAMAS getauft, eine Abkürzung für »La Maschera Admiration Society«. Ihr gehörten etwa ein halbes Dutzend Männer und Frauen an, die in den letzten fünf Jahren jeden September erschienen waren. Sie sahen eine Art mythische Göttin in Jordan und schrieben zuweilen Oden ihr zu Ehren, die der desinteressierte Salerno an Jordan weiterreichte. Eine merkwürdige, aber harmlose Truppe.
    Als die erste Welle von Spekulationen und Verblüffung verebbte, streckte Salerno einen Arm in Jordans Richtung. »Gelehrte Kollegen und verehrtes Publikum! Es ist mir eine Ehre, Ihnen zu Ihrer aller Erhellung ein lebendes Anschauungsobjekt für die Existenz von Zwiegeschlechtlichkeit zu präsentieren. Und wir dürfen dieses Zwitterwesen nicht bloß ansehen, denn überdies erklärt mein Anschauungssubjekt sich bereit, sich zu wissenschaftlichen Zwecken untersuchen zu lassen.«
    Jordan hob eine Hand und winkte dem Publikum mit wedelnden Fingern zu. Eine nervöse Unruhe ergriff den Saal. Im Allgemeinen waren Medizingelehrte es eher gewöhnt, Vorträge zu hören, bei denen Kadaver zur Demonstration des Themas herangezogen wurden. Und diese waren gemeinhin weit weniger lebendig als sie. Einzig die Mitglieder von LAMAS winkten ihr sofort begeistert zu und warfen ihr Blumensträuße sowie andere kleine Geschenke auf die Bühne.
    Der Künstler stand plötzlich auf, zog seinen Stuhl weg und blätterte für einen Moment raschelnd seine Zeichnungen durch. In der vorübergehenden Stille muteten seine Schritte von der Bühne besonders laut an.
    Jordan drehte sich zu ihm und sah ihm nach. Wie sie bemerkte, hatte er die letzte Zeichnung beendet und auf die Staffelei gestellt. Er hatte ihre Genitalien in dreifacher Größe abgebildet. Sie waren sehr naturgetreu auf Papier gebannt. Ja, dieser Maler war wahrlich gut!
    »Werden Sie Zeugen dieses Spektakels, dieses Wunders der Natur zum Wohl der Wissenschaft!«, fuhr Salerno fort. Wie ein Dirigent bewegte er seine Hände in Stakkatogesten zu seinen Worten, auf dass ihnen die erwünschte Wichtigkeit angedieh.
    Jordan blickte an ihm vorbei in das Meer von Gesichtern, das im Dämmerlicht des Zuschauerraumes leicht verschwommen wirkte. Heute war das Theater bis zum letzten Platz besetzt; somit hielten sich mehrere hundert Leute hier auf.
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