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Die Nacht des Satyrs

Die Nacht des Satyrs

Titel: Die Nacht des Satyrs
Autoren: Elizabeth Amber
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hätte bis zu seiner Ankunft bereits begonnen. Raine konnte es nicht leiden, unpünktlich zu sein. Auch diese Kälte konnte er nicht leiden. Vor allem aber konnte er Venedig momentan ganz und gar nicht leiden.
    Da er nicht wusste, wie lange sein Vorhaben ihn in Venedig festhielte, und er auf keinen Fall mehr Zeit als nötig in der Stadt verbringen wollte, hatte er sich Zimmer südöstlich von Venedig auf der Insel Lido genommen. Das Palazzo-Hotel, in dem er wohnte, hatte einst einer reichen Familie gehört; doch die Zeiten waren hart, und so waren die Bewohner aufgrund der hohen Steuern gezwungen gewesen, aus ihrem Palazzo auszuziehen. Gleich nach dem Abzug der Franzosen waren Österreicher gekommen, hatten das herrschaftliche Haus gekauft und vermieteten die Räume nun an Besucher, die sich solch luxuriöse Unterkünfte leisten konnten.
    Raine hatte vor einer guten Stunde eine private Gondel genommen, die ihn über die Lagune nach Venedig brachte. Allerdings war der Bootsverkehr auf dem Canale Grande, der Hauptader der Stadt, außergewöhnlich dicht gewesen, weil es irgendeinen Unfall gegeben hatte. Deshalb musste Raine bei San Marco aussteigen und zu Fuß weitergehen, entlang der Riva del Vin jenseits der Rialto-Brücke. Nach dem Vortrag würde ihn die Gondel am verabredeten Treffpunkt nahe der Brücke am südöstlichen Ufer erwarten.
    Obgleich er den Blick entschlossen geradeaus richtete, konnte Raine sich der vertrauten Geräusche um ihn herum nicht erwehren. Vipern gleich lauerten Erinnerungen überall in dieser Stadt, die nur auf ihre Chance warteten, zuzuschlagen. Sie kreisten ihn ein und beschworen herauf, was er lieber vergessen würde.
    Er war in Venedig geboren und hier im Schoße einer wohlsituierten Reederfamilie aufgewachsen. Als Erbe des Altore-Vermögens hatte er eine hervorragende Schulbildung genossen, und man erwartete von ihm, seinen Vater eines Tages an der Spitze der Altore-Reederei abzulösen.
    Im zarten Alter von dreizehn Jahren jedoch hatte sein Leben an einem einzigen Nachmittag eine dramatische Wende genommen: an jenem Tag, an dem seine Mutter ein langgehütetes Geheimnis enthüllt und ihm eröffnet hatte, dass er nicht der Sohn des Mannes wäre, den er dreizehn Jahre lang Vater genannt hatte. Stattdessen war er der illegitime Spross des berüchtigten Lord Marcus Satyr, dessen zügelloses Treiben seinerzeit in ganz Italien als skandalös gegolten hatte.
    Binnen Stunden war Raine aus seinem Vaterhaus verbannt worden, um fortan auf dem Gut Satyr in der Toskana zu leben. Dort war er unter der Obhut seines leiblichen Vaters groß geworden und hatte gelernt, was es bedeutete, Satyrblut in sich zu tragen.
    In seiner typisch unverblümten Art hatte Lord Satyr ihm kurz nach seiner Ankunft erklärt, dass er nicht vollkommen menschlich wäre, sondern ein Halbblut, in dessen Adern sowohl das Blut der Erdenwelt wie jenes der Anderwelt floss. Und er hatte erfahren, dass er zwei Halbbrüder hatte – Nicholas, der älter war als Raine, und den jüngeren Lyon. Sie drei bildeten die Erben einer Dynastie, die weit einflussreicher und unentbehrlicher für das Überleben beider Welten waren, als Raine es sich je hätte ausmalen können.
    Seit jenem schrecklichen Tag vor nunmehr vierzehn Jahren hatte Raine weder Venedig noch irgendein Mitglied der Altore-Familie wiedergesehen. Er beschleunigte seine Schritte, um den Erinnerungen davonzueilen, denen er ungern nachhing, und bog in eine Gasse ein, die kaum breit genug war, dass zwei Männer aneinander vorbeigehen konnten.
    Hatschi!
Verflucht war diese chaotische, ungezieferverpestete Stadt! Nachdem Napoleon hinausgejagt worden war, befand sie sich in einem erbärmlichen Zustand von Zerfall und Armut, an dem die gegenwärtigen österreichischen Herrscher keine Schuld traf. Überall traf man auf die Armen, die schnieften und kröchten. Gestern hatte Raine sich etwas von dem eingefangen, was sie verbreiteten, als er ein kleines Geschenk für seine Schwägerin Jane bei einem jungen Burschen auf der Piazza kaufte. In seiner Manteltasche befingerte er das Bänderknäuel. Der in Lumpen gekleidete Junge, dem er es abgekauft hatte, hatte an der Anlegestelle vor Raines Hotel gebettelt.
    König Feydons auf seinem Sterbebett geäußerter Wunsch hatte Raine hergeführt. Er hatte nicht herkommen wollen und ärgerte sich über die ihm auferlegte Pflicht, eine der Halbfeentöchter des sterbenden Königs ausfindig zu machen und zu ehelichen. Auf dem Satyr-Anwesen in der Toskana
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