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Die Nacht des Satyrs

Die Nacht des Satyrs

Titel: Die Nacht des Satyrs
Autoren: Elizabeth Amber
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waren sie gerade bei der Weinlese und hatten folglich alle Hände voll zu tun. Aber gemäß Feydon – dem noch nie zu trauen gewesen war – befanden sich seine Töchter in irgendeiner Gefahr, weshalb die Suche nach ihnen keinen Aufschub duldete. Raines älterer Bruder Nick hatte die erste der Töchter, Jane, binnen Wochen in einem der Vororte Roms gefunden. Wie sich herausstellte, hatte sie fürwahr in Gefahr geschwebt; doch inzwischen war sie sicher auf dem Anwesen und glücklich mit seinem Bruder verheiratet.
    Womit Raine die Aufgabe zufiel, die zweite von Feydons Töchtern aufzuspüren. Zweimal war er zu diesem Zweck schon in Paris gewesen, bis er letztlich zu dem Schluss gelangte, dass es ihm womöglich nicht bestimmt war, die Tochter in Paris zu finden. Also blieb ihm diejenige, die in Venedig lebte. Es sah Feydon ähnlich, Raine einen solch üblen Streich zu spielen: ihn in diese Stadt zu schicken, die so viele schmerzliche Erinnerungen barg.
    Raine bog um eine Ecke, und sein Mantel wehte in der Brise auf, die vom Kanal kam. Endlich! Er schritt über die Rialto-Brücke und an den Geschäften vorbei. Vorn auf der anderen Seite wurde gerade ein Kahn mit Wein am Riva del Vin entladen.
    Die Gerüche von Meer und Seide, Holz, Kerzenwachs, Parfum und Brot aus den Läden konnte er nicht wahrnehmen, und ohne seinen Geruchssinn fühlte er sich seltsam von der Welt um ihn herum abgeschnitten.
    »Sind Sie hier, um den Vortrag zu hören, Signore?«, fragte eine näselnde Stimme hinter ihm.
    Zwölf Höllen!
Raine drehte sich blitzschnell zu dem Mann um, der ihn angesprochen hatte. Dass er sich unbemerkt an ihn heranschleichen konnte, war äußerst beunruhigend. Für gewöhnlich entging Raines feiner Nase nichts und niemand. Doppelt verflucht sei seine Erkältung!
    »Erinnert Ihr Euch nicht an mich?«, erkundigte der Mann sich, der sich ihm von hinten genähert hatte.
    Nun, da er ihn musterte, stellte Raine fest, dass er ihm bekannt vorkam. Der Gewandung nach musste es sich um einen Mann der Kirche handeln. Er trug ein violettes Zucchetto, das Scheitelkäppchen in der Farbe des Bischofs, sowie eine Alba, jene lange Robe, die in der Mitte seines kartoffelförmigen Leibs geschnürt war. Obwohl seine Figur nicht minder klobig war als die des grobschlächtigsten Hafenarbeiters, haftete ihm etwas mädchenhaft Weinerliches an, das nicht recht zu seinen breiten Schultern passen wollte.
    Der Mann stellte sich ihm als Bischof vor, wobei er alle zehn frischmanikürten Finger auf seiner Brust spreizte, um seine Wichtigkeit hervorzuheben. Seine blasse, ungesunde Gesichtsfarbe ließ die eng zusammenstehenden braunen Augen noch dunkler und vor allem verschlagen wirken, weil sein Lächeln sie überhaupt nicht berührte.
    »Ich diene in der Kirche Santa Maria del Gorla«, erklärte er, »keine fünfzig Meilen von Eurem Anwesen entfernt. Wir sind uns letzten Herbst auf der Festa della vendemmia begegnet, der Feier zur Weinlese.«
    Raine nieste. Und weil er diese Antwort für ausreichend hielt, wandte er sich um und ging weiter. Der Mann jedoch lief ihm nach, eilte an seine Seite und bemühte sich, mit Raine Schritt zu halten.
    »Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich für die Messweine verantwortlich. Ich gehe davon aus, meine Weine wie immer im nächsten Monat zum Weinlesefest mitzubringen. Entsinnt Ihr Euch zufällig an die Weine, die ich im vorigen Jahr vorstellte? Selbstverständlich handelt es sich nur um bescheidene Versuche, die sich geradezu nichtig ausnehmen, denkt man an die herausragenden Weine, welche Ihr und Eure Brüder auf dem Satyr-Weingut keltert. Ach! Ein göttlicher Trank!«
    Raine wusste nie etwas mit oberflächlichen Schmeicheleien anzufangen, deshalb erwiderte er nichts. Für gewöhnlich überließ er Nettigkeiten wie die gepflegte Konversation Nick und Lyon. Ohne seine Brüder, die ihm beisprangen, war er hilflos der Gnade dieses Mannes wie auch jedes anderen ausgeliefert, der sinnleere Gespräche mit ihm führen wollte.
    Zum Glück – oder wohl eher: leider – schien der Bischof durchaus willens, die Unterhaltung allein zu bestreiten. »Ich vermute, Ihr seid wegen des Vortrags hier? Natürlich. Warum sonst? Ich begleite Euch, denn ich bin aus demselben Grunde gekommen. Nicht dass die Phylloxera meine Weine befallen hat, nein, nein, nichts dergleichen! Ich versichere Euch, meine Trauben wachsen, gedeihen und sind bereit für die Lese.«
    Er holte sehr schnell Atem und fuhr fort: »Was für ein Zufall, dass zwei
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