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Und keiner wird dich kennen

Und keiner wird dich kennen

Titel: Und keiner wird dich kennen
Autoren: Katja Brandis
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Der Brief
    Als Maja die Wohnungstür aufschließt und in den Flur tritt, spürt sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Es ist so still. Normalerweise hört ihre Mutter ständig nebenbei Radio, ein Gedudel, ohne das sie nicht auszukommen scheint. Und um diese Uhrzeit ist sie normalerweise von der Arbeit zurück. Außerdem riecht es auch ungewohnt, nach Zigarettenrauch. Majas Herz beginnt schmerzhaft gegen ihre Rippen zu pochen. Gefahr, Gefahr, Gefahr!, schreit diese Stimme in ihr, die einfach nicht verstummen will.
    Leise stellt Maja ihren Rucksack im Flur ab, geht zum Wohnzimmer und blickt hinein.
    Ihre Mutter sitzt regungslos auf dem Polstersofa. Zwischen ihren Fingern hängt eine Zigarette, von der sich ein bläulicher Rauchfaden zur Decke kräuselt. Mist. Die erste Kippe seit drei Jahren, was ist passiert?
    »Hey«, sagt Maja.
    Ihre Mutter Lila starrt noch immer auf die Schrankwand gegenüber, in der sich ein Pegasus aus Porzellan aufbäumt. Dann streift sie Maja mit einem kurzen Blick und reicht ihr einen Brief, den sie in der Hand gehalten hat. Ein amtliches Schreiben, inzwischen sieht Maja so was auf den ersten Blick – braungraues Papier, eckige Schriftart. Der Absender: Polizeipräsidium Südosthessen. Schnell überfliegt sie den Text – und hat plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
    ... teilen wir Ihnen mit, dass Herr Robert Barsch am 8. 2. aus der Haft entlassen wird ... sind gerne zu einem Gespräch bereit, um Ihnen Möglichkeiten zur Eigensicherung aufzuzeigen ... bitte melden Sie sich zur Terminabsprache.
    »Ach du Scheiße«, flüstert Maja. »In einer Woche schon?«
    »Ist ’ne nette Geste«, sagt Lila und verzieht das Gesicht zu etwas, das wohl ein Lächeln sein soll. »So was machen die nicht immer, hab ich gehört. Dass die dich benachrichtigen, meine ich. Manchmal erfährt man auch gar nichts und dann steht der Kerl plötzlich wieder vor der Tür.«
    Majas Beine tragen sie nicht mehr. Sie lässt sich in den Sessel gegenüber ihrer Mutter fallen und schiebt das Schreiben über die Tischplatte. Einen Moment lang schweigen sie, dann sagt Maja: »Immerhin, er weiß ja nicht, wo wir jetzt leben.«
    »Ja«, sagt Lila. »Immerhin.«
    Sie haben ihre Spuren verwischt, so gut es geht. Lila hat das Einwohnermeldeamt um eine Auskunftssperre gebeten. Ihre Telefonnummern sind in keinem Verzeichnis zu finden. Alle ihre Freunde und Verwandten wissen, dass sie auf keinen Fall die neue Adresse weitergeben dürfen. Bei Facebook hat Maja keinen Wohnort angegeben, natürlich auch nirgendwo sonst, die Vorsicht ist längst zu einem Teil von ihr geworden.
    Reicht das? Es muss reichen. Der Albtraum ist vorbei, er muss vorbei sein!
    Erschrocken sieht Maja, dass Lilas Hände zittern. Asche fällt von der Zigarette auf den Teppich. Maja setzt sich neben ihre Mutter aufs Sofa und legt den Arm um sie. »Ist vielleicht besser, du rufst Dr. Salzmann an. Oder soll ich das machen?«
    »Nee, lass mal, das kriege ich schon hin.« Ihre Mutter streicht sich die langen, dunklen Locken aus dem Gesicht. Dann steht sie auf und geht im Raum umher, erst zum Fenster, dann zur Zimmertür und zurück zum Fenster. Blickt nach draußen. Zurück zur Tür. Nur kurz hält sie an, um sich eine neue Zigarette anzustecken.
    »Er muss sich im Knast ziemlich schlecht benommen haben«, sagt Maja und wundert sich darüber, dass sie selbst so ruhig ist. »Sonst wäre er ja schon vorher auf Bewährung entlassen worden. Kein Wunder. Jemand, der noch im Gerichtssaal herumpöbelt ...«
    »Eigentlich hat er nicht gepöbelt«, sagt ihre Mutter abwesend. »Schlimmer. Er war ganz ruhig. Aber das, was er gesagt hat ...«
    »Was genau hat er denn gesagt?«, entfährt es Maja. Sie ist nicht dabei gewesen bei der Gerichtsverhandlung damals, vor drei Jahren – ihre Mutter wollte es nicht und sie selbst auch nicht. Elias war damals vier und Maja dreizehn.
    Ihre Mutter blickt sie erschrocken an, so als wäre sie eben erst aus einer Art Trance erwacht. Sie antwortet nicht, holt stattdessen das Telefon. »Ich rufe jetzt erst mal auf dieser Dienststelle an. Vielleicht bekommen wir schon in dieser Woche einen Gesprächstermin.« Fahrig sieht sie auf die Uhr. »Verdammt, gleich muss ich Elias aus dem Hort abholen.«
    Keine Antwort bedeutet wohl, dass ihr der Typ gedroht hat. Auf einmal ist Maja froh, dass Lila eben nicht geantwortet hat. Manche Worte fressen sich in die Seele wie Säure, besser, man erspart sich das.
    »Ich muss los!« Ihre Mutter
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