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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast
Autoren: Georges Simenon
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    Es wurden noch keine Gäste erwartet, obwohl schon ein Student, der wegen Sacide gekommen war, an der Bar lehnte. Man brauchte ihn aber nicht zu bedienen, weil er immer nur ein kleines Bier bestellte und es auch noch stehen ließ.
    Einzig die dicke Lola, ausstaffiert mit rosa Seide und falschen Perlen, saß einsatzbereit am ersten Tisch und hatte schon ihr diffuses Dauerlächeln aufgesetzt. Nur einmal, während ihres wenige Minuten dauernden Auftrittes, würde sie nicht lächeln, sondern die Stirn runzeln, die Lippen zusammenkneifen und ängstlich auf ihre Füße blicken. Sie hatte nie besonderen Wert auf ihre Tanzkunst gelegt und tanzte, wie die anderen übrigens auch, der Vorschrift halber, die in den Nachtklubs nur »Künstlerinnen« zuließ. Diese Berufsbezeichnung stand sogar in ihrem Paß!
    Sacide war noch nicht erschienen. Sie ging immer als letzte in den Hängeboden, der den Damen des Etablissements als Loge diente, und erst wenn sie sich durch ein Loch in der Wand vergewissert hatte, daß Kunden im Gastraum saßen, inszenierte sie ihren Auftritt.
    Die Männer zwinkerten ihr dann vieldeutig zu, grapschten nach ihr oder tätschelten ihr den Hintern, und wenn es einer einmal nicht tat, dann war offenkundig, daß er neu war in Ankara.
    Der junge Student an der Bar war wirklich verliebt, und statt die Minuten zu zählen, fragte er ein bißchen Sonja aus, die Russin, die nicht tanzte und statt dessen französische und deutsche Liebeslieder sang.
    »War gestern nacht spät Schluß?«
    »Wie immer, so zwischen vier und fünf.«
    »Und Sacide? …«
    Der Student warf einen giftigen Blick nach hinten, wo sich in zwei Etagen enge Logen aneinanderreihten. Im Rest des Lokals konnte man ein Bier oder eine Limonade trinken, doch in den Logen mußte man türkischen Sekt oder Cocktails bestellen und die eine oder andere »Künstlerin« freihalten. Dafür durfte man den Vorhang der Loge zuziehen und sich den neugierigen Blicken entziehen.
    Der Saxophonist stierte gelangweilt sein Instrument an, setzte es, weil das Publikum auf sich warten ließ, zwischendurch an die Lippen, dudelte ein paar plärrende Töne und starrte es dann von neuem an, während der Pianist eine Stambuler Zeitung las.
    Der Chef des Hauses, ein untersetzter, quirliger, kahlköpfiger Jude, stellte die Getränke für die Nacht bereit. Bis auf zwei oder drei Personen genau konnte er die Zahl seiner Gäste abschätzen.
    Die Sitzungsperiode des Parlaments ging ihrem Ende zu. In zwei oder drei Tagen würde der Ghasi die Versammlung in die Sommerpause schicken, einige Abgeordnete hatten die Hauptstadt bereits verlassen.
    Was blieb dann noch, abgesehen von den Botschaften? Um das › Chat noir‹ herum, das sich lustlos auf sein Nachtleben einstimmte, erhob sich nicht eine Stadt, sondern eine Art Vorposten, wie in Amerika zu Zeiten der Landnahme. Mitten im Hinterland, wo auf kahlem Bergrücken ein Bauernnest vor sich hin döste, hatte man auf Kemal Atatürks Geheiß innerhalb weniger Jahre Paläste und Ministerien aus dem Boden gestampft, Asphaltstraßen gezogen und ein Grandhotel gebaut.
    Doch wenn in den kommenden Tagen Mustafa Kemal, genannt der Ghasi, zu seiner Sommerresidenz am Bosporus aufbrechen würde, würden die Straßen, die neuen Häuser und die Büros praktisch verwaist sein.
    An diesem Abend fand ein Galadiner im › Ankara Palas‹ statt. Seit zwei Monaten wohnten Belgier und Schweizer dort, die um die Konzession für eine Hochspannungsleitung nachsuchten, und heute hatten sie ihr Ziel erreicht. Umgehend erging eine Einladung an eine Reihe von Beamten und Abgeordneten.
    Der Besitzer des › Chat noir‹ rechnete sich aus, daß sie gegen zwei Uhr morgens bei ihm auftauchen würden, und stellte schon zehn Flaschen echten Champagner kalt.
    Eine junge Griechin mit traurigen Hundeaugen, Aspasia mit Namen, schrieb mit violetter Tinte einen Brief, und der Wirt schrie sie an:
    »Mach mir ja das Tischtuch nicht schmutzig!«
    Neben ihr saß Nouchi, eine Ungarin, die vor acht Tagen in Ankara gestrandet war, und lackierte sich die Fingernägel.
    Noch eine halbe Stunde …
    Da klingelte das Telefon. Der Wirt hob ab, bedeutete dem Saxophonisten still zu sein und nahm eine unterwürfige Haltung an, die, als er auflegte, selbstbewußtem Stolz wich.
    »Sacide! … Aspasia! … Lola! …«
    So gerührt war er nicht einmal die seltenen Male gewesen, die ein Botschafter, durch die Hintertür hereinkommend, in einer Loge Platz genommen hatte.
    »Sacide!« rief er
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