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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast
Autoren: Georges Simenon
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groß … Er …
    Nouchi wußte nicht zu sagen, woran es lag. Bestimmend war vor allem der Eindruck von Vornehmheit. Ein Monokel verlieh seiner Physiognomie etwas Förmliches, Aristokratisches. Er trug einen schlichten grauen Anzug, der aber an ihm nicht wie ein Allerweltsanzug wirkte. Die anderen Male, die er gekommen war, hatte er denselben getragen. Er hatte vielleicht nur diesen einen, der allerdings Maßarbeit zu sein schien.
    »Wie heißt du?«
    »Bernard de Jonsac.«
    »Mit einem de vor dem Namen? Bist du adlig?«
    Statt zu antworten, lächelte er und stellte eine Gegenfrage:
    »Warum hast du die andern in Izmir verlassen?«
    »Weil sie nach Syrien gingen und dort Mädchen unter achtzehn in den Nachtklubs nicht zugelassen sind.«
    Sonja kam mit ihrem Tablett vorbei. Es war nicht aufgefallen, daß sie aufgehört hatte zu singen, weil die Musik weiterspielte. Um mit dem Beispiel voranzugehen, tanzten Aspasia und Lola zusammen. Jonsacs Hand blieb auf Nouchis Knie liegen, machte jedoch keinen Versuch, den kindlich-anmutigen Rundungen des Schenkels zu folgen.
    Sie schwiegen, als der Kellner die Cocktails brachte. Mehrere Minuten lang maßen sie sich gegenseitig mit amüsierten Blicken.
    »Ich weiß, daß dir jemand über mich erzählt hat«, seufzte endlich die Ungarin. »Sicher wieder der Chef …«
    »Was soll er erzählt haben?«
    »Das von letzter Nacht …«
    Ihre Züge wurden spitzer, ihr Blick stechender.
    »Du glaubst wohl, ich wisse nicht, warum du mich eingeladen hast! Bisher hast du mich überhaupt nicht wahrgenommen. Jetzt wollen mich plötzlich alle zum Champagner einladen.«
    Neugierig wartete er ab, was folgen würde.
    »Und das alles nur, weil ich mit dem Ghasi geschlafen habe!«
    »Tatsächlich?«
    »Frag Sacide! Siehst du, da machst du Augen!«
    Sie hatten die Vorhänge nicht zugezogen. Sie sahen auf die Tanzfläche hinab, die einige Gäste umstanden.
    »Bezahl mir ein Abendessen, bitte!«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Hast du wirklich kein Geld? Was machst du denn beruflich?«
    Jonsac lächelte von neuem, sehr geheimnisvoll.
    »Rate!«
    »Du bist nicht bei der Botschaft, denn dort kenne ich alle. Geschäftsmann bist du auch nicht …«
    Sie sah seine weißen, sehr gepflegten Hände an. An einem Finger steckte ein Platinring mit einem Diamanten.
    »Warte … Du bist …«
    Sie zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt.
    »Du machst irgend etwas Ausgefallenes … Spionage, zum Beispiel … Oder Kokainhandel … Oder sogar …«
    Er schwieg und ließ sie zappeln; vor Nervosität leerte sie ihr Glas in einem Zug.
    »Bleibst du länger in Ankara?«
    »Ich glaube nicht … Vielleicht reise ich schon morgen ab …«
    »Welcher Klasse reist du?«
    »Schlafwagen.«
    Nouchi blickte verträumt aus dunklen Augen.
    Der Ghasi fährt auch weg … In acht Tagen macht der Laden hier dicht …
    Auf einmal sagte sie:
    »Nimm mich mit!«
    Auch jetzt sagte er weder ja noch nein. Er sah sie an, und sie sah ihn an. Mitten im Lärm hatten sie, ohne es zu bemerken, eine solche Oase der Intimität geschaffen, daß sie einander minutenlang nur schweigend anlächelten.
    »Heißt das ja?«
    »Vielleicht.«
    Nouchi küßte ihn auf die Stirn. Er nutzte die Gelegenheit nicht, sie an sich zu ziehen.
    »Du, wenn du nicht noch etwas bestellst, wird der Chef böse. Bestelle nochmals Cocktails. Wenn du willst, gebe ich dir meinen Anteil …«
    Er wußte, daß sie das Nachtlokal erst verlassen konnte, wenn es schloß. Zwei Stunden lang mußten sie noch warten, bis die letzten Gäste müde würden. Nebenan lachte Sacide, der ihre Kunden ein paar Brocken Italienisch beizubringen suchten.
    »Wie alt bist du eigentlich?«
    »Siebzehn.«
    Jonsac schien ein wenig traurig zu sein, vielleicht war er auch gerührt.
    »Und ist es schon lange her, daß du …«
    »Daß ich was?«
    »Du weißt doch!«
    Sie lachte und entblößte dabei sehr große, strahlend weiße Zähne.
    »Was stört dich das?«
    »Nichts.«
    Die zwei Stunden wurden lang. Sie kamen sich vor wie in einem Wartesaal, in dem es sich nicht lohnt, etwas Ernsthaftes anzufangen. Zehn Minuten vor Schluß ging Nouchi zur Theke, und Jonsac sah ihr von weitem zu, wie sie mit dem Wirt abrechnete. Mit angeleckter Bleistiftspitze ging sie die Zahlen durch, verhandelte und zählte schließlich ihr Geld nach. Dann ging sie zum Hängeboden hinauf und kam mit einem kleinen Paket wieder, das ihr Kostüm und ihre Schminksachen enthielt.
    Sie trafen sich auf dem Gehsteig. Der Zug fuhr um sieben
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