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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast
Autoren: Georges Simenon
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ade, wenn wir in Stambul sind, und du bist mich los.«
    »Aber nein!«
    Den ganzen Nachmittag lang las sie einen deutschen Roman, gegen Abend knabberte sie Gebäck. Schließlich erklärte sie:
    »Und jetzt gehst du auf dem Gang spazieren, während ich mich ausziehe.«
    Eine Viertelstunde später öffnete sie die Tür. Sie trug einen Schlafanzug und einen Morgenmantel.
    »Du bist dran!«
    Als sie beide in Nachtgewändern zwischen den beiden Liegen standen, streckte Jonsac die Arme aus und murmelte:
    »Nouchi …«
    »Pst! … Leg dich schlafen … Ich bin sehr müde …«
    Sie schlüpfte unter das Laken, das sie bis zum Kinn hochzog.
    »Schlaf gut … Weck mich eine Stunde vor der Ankunft …«
    Zwei- oder dreimal war er nahe daran, aufzustehen, doch er spürte, daß es umsonst gewesen wäre. Als sie beide aufwachten, blieb ihnen weniger als eine Viertelstunde bis zur Ankunft, und von getrenntem Anziehen konnte keine Rede mehr sein.
    Sie rafften Wäsche, Kleider und Schuhe zusammen und zogen sich im engen Abteil unter Verrenkungen an. Jonsac erhaschte einen Blick auf ihre weiße Brust, danach, als sie die Strümpfe anzog, auf ihre Beine.
    Doch wenig später standen sie beide vollständig angezogen mit dem Koffer in der Hand da und warteten, daß der Zug in Haydar Paşa zum Stehen kam, dann sprangen sie auf den Bahnsteig hinunter und tauchten ins Gewoge des großen Bahnhofs ein.
    Draußen wartete schon die Fähre. Am anderen Ufer des Bosporus erhob sich Stambul, linker Hand die Minarette, rechter Hand moderne Betonbauten.
    Jonsac schritt zügig voran, die Sonne und das glitzernde Meer blendeten ihn. Da faßte eine Hand so selbstverständlich seinen Arm, als hätte sie seit jeher dorthin gehört.
    »Du machst zu große Schritte«, sagte Nouchi.

2
    Als sie am Nachmittag die Gärten von Taksim mit der grandiosen Aussicht auf das Goldene Horn durchquerten, zog Nouchi ihre spitze Nase kraus, und die kleinen schwarzen Knopfaugen rückten näher zusammen.
    »Hier müssen wir wohnen!« dekretierte sie.
    Diese plötzliche Starrheit des Blicks, dieses Beben der Nasenflügel kannte Jonsac schon: Es verhieß eine fast animalische Begehrlichkeit. Nouchi wies auf die modernen Gebäude, die den Park säumten, auf ihre schmiedeeisernen Tore, ihre marmorverkleideten Eingangshallen, ihre modernen Aufzüge, die geräuschlos zu adretten Wohnungen führten, wo alles reinlich war und das Auge sich am Panorama von Konstantinopel weidete.
    An einem Balkongeländer lehnte eine Frau im blauen Kleid, und dieses Blau bildete auf dem Weiß der Hauswand einen erregenden Tupfer, was den Eindruck grandioser Ruhe und geradezu unwirklicher Friedlichkeit noch verstärkte.
    Im Park führten Kindermädchen in makellosem Weiß ihre Schützlinge spazieren.
    Doch was Nouchi mit eng zusammengerückten Augen plötzlich so scharf fixierte, das war der blaue Fleck, an dessen Stelle sie selbst gerne gestanden hätte.
    Jonsac konnte sie sich gut vorstellen, wie sie dort, im seidigen Negligé lässig ans Geländer gelehnt, sich die Nägel feilen und dabei verträumt auf die Stadt herabblicken würde.
    Einstweilen hatten sie ein Zimmer im › Pera Palas‹ genommen, im sechsten Stock und ohne Blick auf den Bosporus, damit es nicht so teuer wurde. Sie hatten bereits eine Nacht dort geschlafen, in getrennten Betten. Jonsac hatte einen linkischen Annäherungsversuch gemacht.
    »Ich bin müde …«, hatte sie wieder gesagt, worauf sie sich aufs Bett gesetzt, die Strümpfe ausgezogen und sich die brennenden Füße massiert hatte.
    Er hatte in ihren Augen echten Widerwillen gelesen. Er hatte sich dann in sein Bett gelegt, und als er am Morgen die Augen aufschlug, war Nouchi schon im Bad, wo sie in ihren Espadrilles über die kühlen Bodenplatten schlurfte.
    »Klingle dem Kellner«, hatte sie gesagt. »Ich möchte eine heiße Schokolade.«
    Dann hatte sie angefangen, sich mit einer eigenartigen Mischung von Ungeniertheit und Schamhaftigkeit vor ihm anzuziehen. Schon zuvor hatte sie sich nicht abgewandt, als sie sich mit kaltem Wasser den Oberkörper wusch, wobei sie den Schwamm zwischen ihren Brüsten ausquetschte. Doch mit dem Blick schien sie einen Kreis um sich herum zu ziehen, den Jonsac nicht überschreiten durfte.
    Sie kleidete sich in seiner Gegenwart an, wie sie sich wohl vor ihren Kolleginnen im Nachtlokal angekleidet hatte, und lange Zeit saß sie mit zerfurchter Stirn im Unterrock da und stopfte einen über die Faust gespannten Strumpf.
    »Was machen wir
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