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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen
Autoren: Charles Dickens
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Erstes Kapitel
    Nächtliche Spaziergänge sind mir die liebsten, obgleich ich ein alter Mann bin. Im Sommer verlasse ich oft frühmorgens mein Haus und streife den ganzen Tag über auf Feldern und Feldwegen umher, ja ich komme sogar tage- und wochenlang nicht wieder heim; wenn ich aber nicht auf dem Lande bin, gehe ich selten vor dem Eintritt der Dunkelheit aus, obgleich ich, dem Himmel sei Dank, das Licht liebe und mich so gut wie irgendein lebendes Wesen freue, wenn es seine Strahlen lustig über die Erde gießt.
    Dies wurde mir, ehe ich michs versah, zur Gewohnheit, sowohl weil es meiner Gebrechlichkeit zustatten kommt, als auch weil es mir besser Gelegenheit gibt, Betrachtungen über die Charaktere und Beschäftigungen der Menschen anzustellen, welche die Straße füllen. Das grelle Licht und das Getümmel um die Mittagszeit sind für ein so müßiges Treiben wie das meinige nicht geeignet, und ein Blick auf die vorübergehenden Gesichter im Lichte einer Straßenlampe oder eines Ladenfensters dient meinem Zwecke oft weit besser als ihre volle Enthüllung im hellen Scheine des Tages; ja, um die Wahrheit zu gestehen – die Nacht ist in dieser Hinsicht wohlwollender als der Tag, der nur zu oft ohne Rücksichten und Bedenken ein Luftschloß im Augenblicke der Vollendung zerstört.
    Dieses beständige Ab- und Zugehen, diese nie rastende Rührigkeit, diese unablässigen Fußtritte, welche das rauhe Steinpflaster glatt und glänzend machen – ist es nicht ein Wunder, wie die Bewohner enger Straßen es nur mitanhören können? Man denke sich nur einen Kranken zum Beispiel in Sankt Martins Hof, wie er inmitten seiner Schmerzen und seiner Ermattungen auf die Fußtritte horcht und sich, als wäre es eine ihm aufgebürdete Pflicht, abquält, den Tritt des Kindes von dem
des Mannes, den Holzschuh des Bettlers von dem Stiefel des Stutzers, das Schlendern des Müßiggängers von dem Auftreten des tätigen Arbeiters, den trägen Fuß eines Ausgestoßenen von dem raschen Schritte des vergnügungssüchtigen Lebemanns zu unterscheiden. Man denke sich das Gesumme und den Lärm, die stets sein Ohr belästigen, und den Strom des Lebens, der sich ohne Unterlaß dahinwälzt und weiter, weiter, immer weiter selbst durch seine ruhelosen Träume dringt, als sei er verdammt, tot, aber mit fortdauerndem Bewußtsein auf einem geräuschvollen Kirchhof zu liegen, ohne jede Hoffnung, in den nächsten Jahrhunderten zur Ruhe zu kommen.
    Dann das hin und her wogende Gedränge auf den Brücken (wenigstens auf denjenigen, die zollfrei sind), auf denen viele an schönen Abenden haltmachen und gleichgültig auf das Wasser hinuntersehen, mit irgendeinem unbestimmten Gefühl, daß es zwischen grünen Ufern hinfließe, die allmählich weiter und weiter werden, bis es sich endlich mit dem großen, weiten Meere vereinigt – auf denen einige stillstehen, um unter ihrer schweren Last auszuruhen und, indem sie über die Böschung hinuntersehen, sich denken, es müsse ein ungetrübtes Glück sein, in einer trägen Barke auf der heißen, geteerten Leinwand in der Sonne schlafen und sein Leben verrauchen und verbummeln zu dürfen – auf denen einige von einer ganz andern Klasse, mit weit schwereren Lasten als die der vorigen, innehalten und sich erinnern, in früheren Zeiten gehört oder gelesen zu haben, das Ertrinken sei kein harter Tod, jedenfalls die leichteste und beste Art, dem Leben ein Ende zu machen.
    Dann der Covent-Garden-Markt um Sonnenaufgang im Frühling oder Sommer, wenn der Duft würziger Blumen die Luft füllt und sogar die ungesunden Dünste der letzten Nachtschwärmerei überwindet und die schwärzliche Drossel, deren Käfig die ganze Nacht vor dem Fenster eines Dachstübchens
hing, halb toll vor Freude macht! Armer Vogel! Das einzige benachbarte Wesen, das einigermaßen verwandt ist den andern kleinen Gefangenen, den Blumen, die zum Teil, welk geworden in den heißen Händen trunkener Käufer, bereits auf den Straßen liegen, während andere, die zu fest zusammengepackt ganz leblos wurden, der Zeit harren, da sie, mit Wasser begossen, wieder neu aufleben können, um einer nüchterneren Gesellschaft Freude zu machen und alte Schreiber, die auf ihrem Weg ins Geschäft vorübergehen, in Verwunderung zu setzen, was wohl ihre Brust mit Visionen von Landleben erfüllt haben möge.
    Es ist übrigens vorderhand nicht meine Absicht, mich allzuweit über meine Spaziergänge zu verbreiten. Die Geschichte, die ich erzählen will, ist das Ergebnis
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