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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen
Autoren: Charles Dickens
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eines dieser Streifzüge; und so habe ich mich veranlaßt gefühlt, von ihnen als eine Art Einleitung zu sprechen.
    Eines Abends ging ich in der City umher und spazierte, wie gewöhnlich, langsam weiter, über viele Dinge nachdenkend, als ich durch eine Frage angehalten wurde, die zwar kaum mein Ohr erreichte, aber doch an mich gerichtet zu sein schien: der Ton der Stimme war so weich und sanft, daß sie einen gar angenehmen Eindruck auf mich machte. Ich wandte mich rasch um und bemerkte an meiner Seite ein hübsches kleines Mädchen, das mich bat, ihm den Weg nach einer gewissen Straße anzugeben, die ziemlich weit entfernt von uns lag – ja sogar in einem ganz andern Stadtteile.
    »Kind, das ist ein langer Weg von hier«, sagte ich.
    »Ich weiß das, Sir«, versetzte sie schüchtern. »Ich fürchte, es ist ein sehr langer Weg, denn ich kam schon heute abend von dort her.«
    »Allein?« fragte ich etwas überrascht.
    »O ja, daran liegt mir nichts; aber jetzt bin ich ein wenig in Angst, denn ich habe die Richtung verloren.«
    »Und was veranlaßt dich, mich zu fragen? Angenommen, ich gäbe dir eine falsche Weisung?«
    »Ich bin überzeugt, daß Sie das nicht tun werden«, erwiderte das kleine Geschöpf. »Sie sind schon ein sehr alter Herr und gehen selbst so langsam.«
    Ich kann nicht beschreiben, welchen Eindruck dieser ›Appell‹ und die Energie, mit der er gemacht wurde, auf mich übte; denn eine Träne stand in dem klaren Auge des Kindes, und ihre leichte Gestalt zitterte, als sie mir ins Gesicht sah.
    »Komm«, sagte ich, »ich will dich hinführen.«
    Sie legte ihre Hand so vertrauensvoll in die meinige, als ob sie mich von der Wiege an gekannt hätte, und so trotteten wir miteinander weiter. Das kleine Wesen richtete seinen Schritt nach dem meinigen und schien eher mich zu leiten und für mich Sorge zu tragen, als unter meinem Schutze zu stehen. Ich bemerkte, daß sie hin und wieder verstohlen einen neugierigen Blick nach meinem Gesichte warf, als suche sie sich zu überzeugen, daß ich sie nicht täusche, und diese Blicke, die noch obendrein sehr scharf und spähend waren, schienen ihre Zuversicht mehr und mehr zu erhöhen.
    Was mich anbelangt, so waren meine Neugierde und mein Interesse zum mindesten ebenso groß wie die des Kindes; denn ein Kind war sie sicherlich, obgleich ich es für wahrscheinlich hielt, daß, so viel ich eben sehen konnte, ihre sehr kleine und zarte Gestalt ihrer Erscheinung eine ganz besondere Jugendlichkeit verlieh. Sie war zwar ziemlich dürftig, aber doch nett und reinlich gekleidet, und keine Spur deutete auf Armut oder Verwahrlosung.
    »Wer hat dich denn allein einen so weiten Weg geschickt?« fragte ich.
    »Jemand, der sehr gütig gegen mich ist, Sir.«
    »Und was wurde dir für ein Geschäft aufgetragen?«
    »Das darf ich nicht sagen«, erwiderte das Kind.
    Es lag etwas in der Art dieser Entgegnung, das mich veranlaßte, das kleine Wesen mit einem unwillkürlichen Ausdruck der Überraschung anzusehen; denn ich wunderte mich, was für ein Auftrag es wohl sein mochte, der sie auf eine solche Frage vorbereitet hatte. Ihr schneller Blick schien meine Gedanken zu lesen, denn als er dem meinigen begegnete, fügte sie bei, es liege nichts Unrechtes in dem, was sie getan habe, aber es sei ein großes Geheimnis – ein Geheimnis, das sie selbst nicht einmal wisse.
    Sie sagte dies ohne den geringsten Anschein von Verschmitztheit oder Arglist, sondern mit einer unverdächtigen Freimütigkeit, die das Gepräge der Wahrheit an der Stirne trug. Sie ging, wie früher, neben mir her und wurde im Verlaufe unseres Spazierganges immer zutraulicher. Wir plauderten heiter unterwegs, aber sie erzählte nichts mehr von ihrem Daheim, außer daß sie bemerkte, wir schlügen einen ihr ganz neuen Weg ein, und sich erkundigte, ob es ein kürzerer wäre.
    Während wir so dahinmarschierten, beschäftigte sich mein Geist mit hundert verschiedenen Lösungen dieses Rätsels, die ich jedoch alle wieder verwarf. Übrigens schämte ich mich, aus der Freimütigkeit und dem dankbaren Gefühle des Kindes Vorteil zu ziehen, um meine Neugierde zu befriedigen. Ich liebe solch kleines Volk, und es ist nichts Geringes, wenn sie, die so frisch aus der Hand Gottes kommen, uns lieben. Da ihr Vertrauen mir gleich von Anfang an Freude gemacht hatte, so beschloß ich, es zu verdienen und der Natur Ehre zu machen, welche die Kleine veranlaßt hatte, auf mich zu bauen.
    Es war indes kein Grund vorhanden, warum ich es
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