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Vergeben, nicht vergessen

Titel: Vergeben, nicht vergessen
Autoren: Catherine Coulter
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Prolog
    Er hatte den Mann deutlich vor Augen: groß, dunkel gekleidet, eine starre Silhouette vor dem neblig grauen Himmel. Er betrat einen riesigen Granitbau, hässlich und uninteressant, mit einer Unzahl von Fenstern, die, von den allerobersten einmal abgesehen, eigentlich auf gar nichts hinausschauten. Plötzlich stand er hinter dem Mann, unmittelbar hinter seiner Schulter, hielt mit ihm Schritt und beobachtete, wie er mit dem Aufzug in das neunzehnte Stockwerk fuhr. Fast schon neben ihm laufend, begleitete er ihn den langen Korridor entlang, wo er eine Tür zu einem weitläufigen Büro öffnete. Eine freundliche Sekretärin empfing ihn und lachte über eine von ihm gemachte Bemerkung. Er beobachtete, wie der Mann noch zwei weitere Leute begrüßte, einen jungen Mann und eine junge Frau, beide gut gekleidet und beide offenbar ihm unterstellt. Er betrat mit dem Mann zusammen ein großes Büro, sah die amerikanische Flagge, einen voluminösen Schreibtisch mit einem Computer, im Rücken eingebaute Wandregale, neben ihm das Fenster. Dann stand er dicht hinter dem Mann und hätte die Hand ausstrecken und ihm helfen können, seinen langen, schwarzen Talar überzuziehen. Er beobachtete ihn dabei, wie er die beiden Verschlüsse festzurrte. Der Mann öffnete die Tür und betrat einen großen Saal, sein Gesichtsausdruck ernst, fast schon kalt, jeglicher Humor von vorhin wie weggewischt. Ein Klingeln ertönte und hörte in dem Moment auf, als er den Saal betrat. Es wurde vollkommen still.
    Plötzlich begann sich der Saal zu drehen, Gesichter verschwammen miteinander, die Luft des Raums wurde schwer und schwerer, dann wurden die beiden Haupttüren aufgerissen, und drei Männer stürzten herein. Sie trugen Gewehre, Angriffswaffen, die einer russischen AK47 ähnelten. Sie schossen, Menschen schrien, Blut spritzte auf. Er beobachtete, wie sich die Gesichtszüge des Mannes vor Schreck und Wut verspannten. Plötzlich bemerkte er, wie der Mann mit fliegender Robe über die Barriere sprang, die ihn von den anderen Menschen im Saal trennte. Sein Bein verharrte in der Luft, er drehte sich um die eigene Achse und griff an. Seine Bewegungen waren so schnell, dass man sie nicht deutlich erkennen konnte. Jemand schrie laut auf.
    Jetzt war er dicht hinter dem Mann, hörte seinen Atem, spürte seine angestaute Wut, diese unbändige Anspannung und Konzentration, und er begann zu grübeln.
    Plötzlich drehte sich der Mann erneut herum, diesmal, um ihm ins Gesicht zu blicken. Er starrte sich selbst an, sah tief in die Augen eines Mannes, der gerade gemordet hatte und wieder morden würde. Er fühlte, wie sich der Speichel in seinem Mund sammelte, fühlte die angespannten Muskeln, fühlte, wie sein Arm zuschlug und den Mann dann an der Gurgel packte.
    Jäh richtete er sich auf und strampelte das Laken, das ihn wie bei eine Mumie dicht umhüllt hatte, von sich. Ein Schrei erstarb auf seinen Lippen. Er war schweißgebadet, das Haar klebte ihm am Kopf. Sein Herz schlug so schnell und laut, dass er zu explodieren glaubte. Da war er wieder, dachte er, dieser verdammte Traum. Es schien ihm, als ob er es nicht mehr länger würde ertragen können.
    Eine Stunde später ging er aus dem Haus und verschloss sorgfältig die Tür. Er war auf dem Weg zu seinem Auto, als ein Mann aus dem Gebüsch sprang und ihn mit einem Blitzlichtgewitter blendete. Das war zu viel.
    Er hechtete auf den hinstürzenden Fotografen zu, verkrallte sich in seinen Hemdkragen und schrie ihm ins Gesicht: »Sie sind zu weit gegangen, Sie Mistkerl!« Er grabschte sich die Kamera, zerrte den Film heraus und schmiss ihn weg. Dann schmetterte er dem Mann, der ihn, auf dem Rücken liegend, anstarrte, die Kamera vor die Füße.
    »Das können Sie nicht tun!«
    »Ich habe es gerade getan. Runter von meinem Grundstück.«
    Der Mann stolperte auf die Füße und presste die Kamera gegen die Brust. »Ich werde Sie verklagen! Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf diese Information!«
    Am liebsten hätte er den Mann zu Brei verprügelt. Sein Verlangen danach war so heftig, dass er bebte. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er gehen musste. Er würde sich sonst vielleicht nicht mäßigen können, durchdrehen und tatsächlich einen dieser Mistkerle ernsthaft verletzen. Oder er würde schlichtweg verrückt werden.

1
    Rocky Mountains, im Frühling
    Er stand am Rande des Bergabhangs, der gute siebzig Meter abfiel, ehe er in den von Bäumen bestandenen Tälern und weichen, von wilden Blumen
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