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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen
Autoren: Charles Dickens
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Kind.
    »Pst, pst!« versetzte der alte Mann, »du verstehst das nicht – wie könntest du das verstehen?« Dann murmelte er wieder zwischen den Zähnen: »Die Zeit muß kommen – gewiß, sie kann nicht ausbleiben. Nur um so besser, wenn es später eintrifft.«
    Dann seufzte er und fiel in seinen früheren nachdenklichen Zustand zurück, wobei er das Kind noch immer zwischen seinen Knien hielt und für die ganze Umgebung unempfindlich zu sein schien.
    Inzwischen war die Zeit vorgerückt, so daß nur noch wenige Minuten auf Mitternacht fehlten. Als ich aufstand, um mich zu entfernen, erwachte er wieder aus seinen Träumen.
    »Noch einen Augenblick, Sir«, sagte er. »Was soll das, Kit? Fast Mitternacht, und du noch hier? Geh nach Hause, geh nach Hause und sei morgen zur Zeit da, denn es gibt Arbeit! Gute Nacht! Sag ihm gute Nacht, Nell, und laß ihn gehen!«
    »Gute Nacht, Kit«, sagte die Kleine, und ihre Augen blitzten vor Freude und Herzlichkeit.
    »Gute Nacht, Miß Nell«, erwiderte der Junge.
    »Und bedanke dich bei diesem Herrn«, fiel der alte Mann ein; »denn ohne seine Sorgfalt wäre mir heute nacht mein kleines Mädchen verlorengegangen.«
    »Nein, nein, Herr«, versetzte Kit, »was fällt Ihnen ein! Gar keine Spur!«
    »Was willst du damit sagen?« entgegnete der alte Mann.
    »Ich würde sie aufgefunden haben, Herr«, antwortete Kit; »ich würde sie aufgefunden haben! Ich wollte wetten, daß ich sie auffände, wenn sie nur irgendwo noch über dem Boden ist; ja, das wollte ich, und so schnell wie irgendeiner, Herr. Ha ha ha!«
    Kits Mund öffnete sich aufs neue, während sich seine Augen versteckten, und wie Stentor lachend zog er sich rücklings nach der Tür zurück, durch die er sich hinausbrüllte.
    Sobald der Junge einmal aus dem Zimmer war, zögerte er auch nicht länger, das Haus zu verlassen. Als nach seiner Entfernung das Kind den Tisch abräumte, sagte der alte Mann:
    »Ich kann Ihnen freilich nicht genug danken für das, was Sie diesen Abend an mir getan haben; aber mein demütiger Dank kommt aus dem Grunde meines Herzens, und auch bei ihr ist dies der Fall, und der ihrige ist mehr wert als der meinige. Es täte mir leid, wenn Sie mit dem Glauben fortgingen, ich wüßte Ihre Güte nicht zu schätzen oder vernachlässigte das Mädchen – nein, ein solcher Vorwurf kann mich sicher nicht treffen.«
    »Nach dem, was ich gesehen«, versetzte ich, »bin ich vollkommen überzeugt davon. Aber«, fügte ich bei, »ich möchte noch etwas fragen.«
    »Und das wäre, Sir?« erwiderte der alte Mann.
    »Dieses kleine Geschöpf, mit so viel Schönheit und Verstand begabt«, fuhr ich fort, »hat sie niemand, der für sie Sorge trägt, als Sie? Hat sie keinen andern Gefährten oder Berater?« 
    »Nein«, entgegnete er, mir ängstlich ins Gesicht blickend; »nein, auch bedarf sie keines andern.«
    »Aber fürchten Sie nicht«, sagte ich, »daß Sie sich in einer so zarten Aufgabe versehen könnten? Ich bin überzeugt, daß Ihre Absicht gut ist; aber wissen Sie auch ganz gewiß, daß Sie einer derartigen Verpflichtung gewachsen sind? Ich bin ein alter Mann wie Sie und hege die Sorge eines alten Mannes um das, was jung und vielversprechend ist. Glauben Sie nicht, daß das, was ich heute nacht von Ihnen und diesem kleinen Wesen gesehen habe, mir ein Interesse einflößen muß, das nicht ganz frei von schmerzlichen Empfindungen ist?«
    »Sir«, versetzte der alte Mann nach einem Augenblick des Schweigens, »ich habe kein Recht, mich durch Ihre Worte gekränkt zu fühlen. Es ist wahr, daß ich in vielen Beziehungen das Kind bin, während sie die Erwachsene ist … Sie haben das bereits selbst gesehen. Aber wachend oder schlafend, bei Tag oder Nacht, in gesunden oder kranken Tagen ist sie der einzige Gegenstand meiner Sorge – und wenn Sie wüßten, welcher Sorge, so würden Sie mich sicherlich mit ganz andern Augen betrachten. Ach, es ist ein mühsames Leben für einen alten Mann – ja, ein sehr mühsames Leben; doch es gilt, ein großes Ziel zu erringen, und das ist es, was ich nie aus dem Auge verliere!«
    Da ich bemerkte, daß er in einem Zustande großer Aufregung und Ungeduld war, wandte ich mich, in der Absicht, meinen Überrock anzuziehen, den ich am Eingange des Zimmers abgelegt hatte, entschlossen, kein Wort mehr zu verlieren. Ich war jedoch nicht wenig überrascht, als ich das Kind
geduldig, mit einem Mantel auf dem Arm und Hut und Stock in den Händen, an der Tür stehen sah.
    »Dies gehört nicht
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