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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen
Autoren: Charles Dickens
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augenfälligem Erstaunen, daß ich in der Verwirrung nicht wußte, was ich ihm antworten sollte, um so mehr, da sich mit der Schwäche und Unstetigkeit in seinem Wesen Spuren tiefer und ängstlicher Gedankenarbeit paarten, welche mir bewiesen, daß er sich nicht, wie ich anfangs überzeugt war, in einem Zustande kindischer Altersschwäche befand.
    »Ich glaube nicht, daß Sie die geeignete Rücksicht …«, begann ich.
    »Wie, nicht die geeignete Rücksicht?« unterbrach mich der alte Mann. »Ich sollte nicht die nötige Rücksicht auf sie nehmen? Ach, wie wenig kennen Sie die Wahrheit! Kleine Nelly, kleine Nelly!«
    Es wäre niemand möglich, mag er nun die Worte setzen wie er wolle, mehr Innigkeit auszudrücken, als in diesen vier letzten Worten des Raritätenkrämers lag. Ich wartete, bis er fortfahren würde; aber er stützte sein Kinn in die Hand, schüttelte einige Male den Kopf und heftete seine Augen auf das Feuer.
    Während wir so schweigend dasaßen, tat sich die Tür des
Kabinetts auf, und das Kind kehrte zurück: ihr lichtbraunes Haar hing lose um ihren Nacken, und die Glut ihres Gesichts bewies, wie sehr sie sich beeilt hatte, wieder zurückzukommen. Sie schickte sich nun an ein Nachtessen zu bereiten, und während dies geschah, bemerkte ich, daß der alte Mann die Gelegenheit wahrnahm, mich schärfer, als er es bisher getan hatte, ins Auge zu fassen. Ich war überrascht, als ich sah, daß diese ganze Zeit über alles durch das Kind getan wurde und daß außer uns keine weiteren Personen in dem Hause zu sein schienen. Sobald sie einen Augenblick das Zimmer verließ, benutzte ich den Anlaß, hierüber ein Wort fallenzulassen, worauf der alte Mann erwiderte, es gäbe nur wenige erwachsene Personen, welche so zuverlässig und sorgsam seien wie sie.
    »Es tut mir immer weh«, bemerkte ich, etwas gereizt durch seine anscheinende Selbstsucht, »es tut mir immer weh, wenn ich sehe, daß man Kinder, die kaum dem Gängelbande entwachsen sind, mit den Mühen des Lebens bekannt werden läßt. Es beeinträchtigt ihre Zutraulichkeit und Einfalt – zwei der schönsten Eigenschaften, die ihnen der Himmel geschenkt hat – und legt ihnen einen Teil unserer Sorgen auf, ehe sie imstande sind, unsere Freuden mitzufühlen.«
    »Es wird keine der ihrigen schmälern«, erwiderte der alte Mann mit einem festen Blick auf mich; »die Quellen sind zu tief. Außerdem, die Kinder der Armen wissen nur wenig vom Vergnügen. Selbst die wohlfeilsten Freuden der Kindheit müssen gekauft und bezahlt werden.«
    »Aber – ich bitte um Verzeihung, daß ich so spreche – Sie sind doch gewiß nicht gar so arm?« sagte ich.
    »Sie ist nicht mein Kind, Sir«, versetzte der alte Mann. »Ihre Mutter war arm, und sie ist es gleichfalls. Ich habe nichts übrig – nicht einen Penny –, obgleich ich lebe, wie Sie sehen, aber …«, er legte dabei seine Hand auf meinen Arm und beug
te sich flüsternd vorwärts, »sie soll eines Tages reich und eine vornehme Dame werden. Denken Sie nicht schlimm von mir, weil ich mich ihrer Hilfe bediene! Sie sehen, daß sie es gern tut, und es würde ihr das Herz brechen, wenn sie wüßte, daß ich mir durch andere das tun ließe, was ihre kleinen Hände zu leisten vermögen … Ich keine Rücksicht auf sie nehmen!« rief er plötzlich in einem klagenden Tone. »Ach, Gott weiß, daß dieses Kind der einzige Gedanke und Zweck meines Lebens ist; und dennoch schickt er mir nie das Glück, das ich brauche – nein, nie!«
    Bei dieser Wendung des Gesprächs kam dessen Gegenstand zurück, und der alte Mann winkte mir, näher an den Tisch zu rücken, indem er zugleich abbrach und fortan schwieg.
    Wir hatten kaum unser Mahl begonnen, als sich ein Klopfen an derselben Tür, durch die ich hereingekommen war, vernehmen ließ, und Nelly brach in ein herzliches Lachen aus, das ich nicht ungern hörte, denn es war ganz kindlich und voll Heiterkeit; dann sagte sie, es wäre ohne Zweifel der liebe alte Kit, der endlich zurückkäme.
    »Närrische Nell«, sagte der alte Mann, indem er mit ihren Haaren spielte. »Sie lacht immer über den armen Kit.«
    Das Kind lachte abermals und noch herzlicher als zuvor, und ich konnte mich nicht enthalten, aus reiner Sympathie mitzulächeln. Der kleine alte Mann ergriff ein Licht und entfernte sich, um die Tür zu öffnen. Als er zurückkam, folgte ihm Kit auf der Ferse.
    Kit war ein struwwelköpfiger, lätschbeiniger, linkischer Bursche mit einem ungewöhnlich weiten Munde, sehr roten Backen,
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