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Der lange Regen

Der lange Regen

Titel: Der lange Regen
Autoren: David Kenlock
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1. Regen
     
    Als ich erwachte, trommelte der Regen gegen die Scheibe des großen Plexiglasfensters meiner Wohneinheit. Blasse Tropfen, die unablässig über die glatte Oberfläche in die Tiefe glitten.
    Ich mochte den Regen nicht, aber seit die Pole zum Großteil geschmolzen waren, regnete es fast ständig. Hamburg war dabei, im Meer zu versinken, aber nur wenige Menschen störten sich daran und noch weniger waren deswegen besorgt. Es war eine Tatsache, welche die zweiundzwanzig Millionen Einwohner dieser Metropole schon lange akzeptiert hatten. Scheißregen. Fluchend schlug ich die Bettdecke zurück und tappte ins Badezimmer hinüber.
    Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich nicht viel besser aussah als am Abend zuvor, als ich mit Schneyder eine Sauftour durch die mittleren Ebenen der Stadt gemacht hatte.
    Es war spät geworden, oder früh, eine Frage der Betrachtungsweise. Nur widerwillig putzte ich mir die Zähne. Der Geschmack der Reinigungscreme brannte in meiner Mundhöhle, und ich spuckte das zähe Weiß in das Waschbecken, wo es vom Abfluss mit einem saugenden Geräusch entfernt wurde.
    Eigentlich sollte ich duschen. Bei Gott, ich hatte es nötig, aber mir war einfach nicht danach, also trottete ich in die Küche und gab dem Foodgenerator die entsprechende Order für mein Frühstück. Zwei Minuten später stand ein Teller mit dampfendem Rührei und drei Scheiben goldbraunem Toast vor mir. Syn-Food, aus Sojamehl hergestellt. Die Nahrungsmittel früherer Jahrhunderte gab es nicht mehr. Niemand hatte Interesse daran, das verwesende Fleisch toter Tiere oder andere tierische Eiweißprodukte zu essen. Heutzutage wurden alle Nahrungskomponenten aus pflanzlichen Grundstoffen hergestellt. Foodgeneratoren formten den Pulverbrei, gaben ihm das entsprechende Aussehen, und die beigefügten Geschmacksmoleküle sorgten dafür, dass ein Steak auch wie ein Steak schmeckte.
    Während ich lustlos in meinem Essen herumstocherte und mich wegen meiner hämmernden Kopfschmerzen bedauerte, meldete sich der Vi-Communicator mit einem hellen Summton. Das Bild erschien und Westmanns fülliges Hundegesicht grinste mich an.
    Westmann war mein Vorgesetzter. Leiter des Polizeireviers Hamburg-Nord, und ich war sein Lieblingsermittler, auch wenn er mich das nur selten spüren ließ.
    „Hallo Josh“, begrüßte er mich. „Lange Nacht, was?“ Der Spott huschte über seine feisten Wangen, blitzte in seinen eng stehenden Augen.
    Ich brummte nur und versuchte einigermaßen gesund auszusehen, obwohl hinter meinen Augen der Schmerz tobte. Westmann ließ sich nicht täuschen.
    „Es geht dir wieder einmal beschissen“, stellte er lakonisch fest.
    „Was gibt es?“, versuchte ich ihn abzulenken.
    „Eine Leiche.“ Das Grinsen in seinem Gesicht verschwand augenblicklich. Seinen Job nahm er ernst, sehr ernst.
    „Wo?“
    „Untere Ebene Siebzehn.“
    Überrascht hob ich eine Augenbraue. „Dafür sind wir nicht zuständig.“
    Die unteren Ebenen gehörten zum Revier Hamburg-Mitte. Wir waren nur für die mittleren und oberen Ebenen der Stadt zuständig und auch dort nicht für alle Gebiete. So weit unter der Erde herrschten die Outlaws. Polizeikräfte, die da eingesetzt wurden, waren speziell ausgerüstet, wobei kugelsichere Kevlarwesten nur die Grundausstattung waren. In den oberen Ebenen wurde gewitzelt, dass die Beamten der unteren Ebenen sogar mit ihrer Ausrüstung schliefen, weil sie längst festgewachsen war.
    Westmann lenkte meine Gedanken zurück auf den Mordfall.
    „Diesmal ist es eine Ausnahme. Die Leiche ist eine bekannte Persönlichkeit und der Bürgermeister hat verlangt, dass die besten Leute eingesetzt werden.“
    Ich ging über das Kompliment hinweg und fragte stattdessen: „Wen hat es erwischt?“
    „Götz Erwin Reutter-Schmid.“
    Mit einem leisen Pfiff entwich die angestaute Luft meinen Lungen. Reutter-Schmid war der Erbe eines großen Industriemagnaten und ein begnadeter Schauspieler. Praktisch ständig konnte man ihn auf den Com-Schirmen bewundern. Das war nun vorbei. Schade, ich hatte seine Art zu spielen gemocht.
    „Was hat er so weit unten gemacht?“, fragte ich. „Eine Entführung?“
    Westmann schüttelte seinen Bassetkopf. „Nein, keine Entführung. Wir wissen nicht, was ihn veranlasst hat, in dieses Gebiet zu gehen.“
    „Wann wurde er ermordet?“
    „Gestern.“
    „Was?“
    „Niemand hat den Leichenfund gemeldet.“
    Nun, das war nicht ungewöhnlich. Kein Bewohner ab Ebene -1 käme jemals auf die
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