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Der lange Regen

Der lange Regen

Titel: Der lange Regen
Autoren: David Kenlock
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hinterlassen.
    „Auf der anderen Halsseite auch?“, fragte ich.
    Er nickte. Reutter-Schmid war also erwürgt worden. Bei einer Erdrosselung wären die Spuren gleichmäßig um den ganzen Hals verlaufen. Etwas anderes fiel mir auf. Der Kopf schien irgendwie schief auf dem Hals zu sitzen. Ich machte Behring darauf aufmerksam. Er hatte es bereits bemerkt.
    „Genickbruch.“
    Ich war verblüfft. „Du meinst, jemand hat ihn erwürgt und das Genick gebrochen?“
    „Es kommt noch besser.“ Sein Finger deutete auf den Kehlkopf des Opfers. „Eingedrückt. Zerquetscht.“
    Die angehaltene Luft entwich mit einem Seufzen aus meiner Lunge. „Wer tut so etwas? Du liebe Güte, wer hat so viel Kraft, um so etwas zu tun?“
    Behring musste mir nicht antworten. Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag. Meine Knie begannen zu zittern.
    Wenn kein anderes Instrument als bloße Hände bei der Ermordung eingesetzt worden war, und darauf deuteten die sichtbaren Spuren am Hals des Opfers hin, dann kam als Täter kein Mensch in Frage.
    Kein Mensch im eigentlichen Sinne und trotzdem menschlich bis ins kleinste Detail.
    Der Täter konnte nur ein Syntant sein.
     
     
    Die ersten Syntanten waren vor zweihundert Jahren aus menschlichem Genmaterial gezüchtet worden. Damals war es eine Sensation gewesen. Der moderne Mensch war Gott geworden, konnte selbst Leben erschaffen. Aber diese Errungenschaft der Wissenschaft hatte nicht nur Beifall gefunden. Zahlreiche Kritiker waren auf den Plan getreten und hatten vor dieser Entwicklung und den damit verbundenen, nicht absehbaren Gefahren gewarnt. Aber ihre Stimmen waren mit der Zeit immer leiser geworden und schließlich verstummt. Niemand hörte ihnen zu.
    Vor achtundsiebzig Jahren erhielten die großen Pharmakonzerne der Welt die Erlaubnis, neuartige Behandlungsmethoden und neu entwickelte Medikamente an Syntanten testen zu dürfen. Das genetische Material war das gleiche wie beim Menschen und die Übertragbarkeit der Ergebnisse einhundert Prozent. Praktisch war natürlich, dass Syntanten keine Lobby hatten, ja nicht einmal über die normalen Bürgerrechte verfügten. Niemand fragte nach, weil niemand etwas wissen wollte.
    Natürlich gab es Kontrollkommissionen und staatliche Organe, die Richtlinien aufstellten. Jeder Versuch musste schriftlich beim Ministerium für Gesundheit angemeldet und begründet werden. Aber wie immer fanden skrupellose Wissenschaftler Wege, die Bestimmungen zu umgehen oder in ihrem Sinne auszulegen.
    Dokumentationen im Internet und auf den Vi-Schirmen berichteten in regelmäßigen Abständen darüber, wie gut es den Syntanten bei der ganzen Sache ging. Optimale Versorgung, der beste Gesundheitsdienst und ein Freizeitangebot, wie es sich nur die ganz Reichen leisten konnten. Sie schienen alles zu haben, was man sich nur wünschen konnte - bis auf ihre Freiheit. Es gab draußen in der wirklichen Welt genug Menschen, die liebend gern mit einem Syntanten den Platz getauscht hätten. Der Rest hatte eigene Probleme und Syntant, das war nur ein Begriff für etwas, das niemals jemand in Wirklichkeit gesehen hatte. Abstrakt. Unwirklich.
    Alle sahen weg, wo sie hätten hinsehen sollen. Niemand wollte die eigentliche Wahrheit wissen, und als sie ans Licht kam, erschütterte sie das Weltgefüge.
    Die warnenden Stimmen der Vergangenheit waren verstummt, als sie erkannt hatten, dass Worte nichts bewirkten, aber sie waren nicht untätig geblieben. Im Lauf der Jahrzehnte war im Untergrund eine weltweit operierende Organisation entstanden, die sich die Befreiung aller Syntanten zum Ziel gesetzt hatte.
    Am 06.Juli 2347 schlugen sie zu.
    Zeitgleich in allen Ländern der Welt überfielen sie Labors, Versuchsstätten und Pharmakonzerne. Als sie die verschlossenen Türen der Hochsicherheitstrakte öffneten, strömte ihnen das Grauen entgegen.
    Die Bilder gingen live im Internet um die Welt. Menschliche Wesen, oft abnorm verändert, mit zu vielen oder zu wenigen Gliedmaßen, mit riesigen Köpfen, mit und ohne Augen, Nase oder Lippen, viele von ihnen mit Geschwüren bedeckt oder mit Tumoren übersät, krochen durch kahle, nackte Gänge ins Tageslicht. Es war unvorstellbar. Der Missbrauch, das, was man diesen armen Kreaturen angetan hatte, war unvorstellbar. Und doch war es die Wahrheit, die röchelte, auf den Boden sabberte und ihre Exkremente auf den Kacheln hinterließ.
    Nicht alle dieser Wesen waren dumm oder gar primitiv. Es gab eine Vielzahl von Mutationen mit unglaublicher
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