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Der Raritätenladen

Der Raritätenladen

Titel: Der Raritätenladen
Autoren: Charles Dickens
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selten vor und hörten bald ganz und gar auf: die Glocken schlugen eins. Noch immer ging ich auf und ab, jeden Augenblick im Begriffe, mich zu entfernen; aber stets wurde ich meinem Vorhaben wieder untreu, indem ich mich durch einen neuen Vorwand beschwichtigte.
    Je mehr ich über die Worte des alten Mannes, seine Blicke und sein ganzes Benehmen nachdachte, desto weniger konnte ich mir alles, was ich gehört und gesehen hatte, erklären. Eine unheimliche Ahnung beschlich mich, daß seine nächtliche Abwesenheit nichts Gutes bezwecke. Nur die Unschuld des Kindes hatte mich in die Tatsache eingeweiht, und obgleich der alte Mann zugegen war und mein unverhohlenes Erstaunen bemerkte, hatte er doch den Schleier des Geheimnisses über die
sen Punkt nicht gelüftet und kein Wort der Erklärung gesprochen. Diese Betrachtungen riefen mir natürlich sein abgezehrtes Gesicht, sein unstetes Benehmen und seine fortwährend ängstlichen Blicke erst recht lebhaft ins Gedächtnis. Seine Liebe zu dem Kinde konnte sich möglicherweise wohl mit einer Büberei der schlimmsten Art vertragen; selbst diese Liebe barg einen ungemeinen Widerspruch – wie hätte er die Kleine sonst so verlassen können? Ich war einmal in der Stimmung, Schlimmes von ihm zu denken, und so mochte ich auch nicht an die Aufrichtigkeit seiner Liebe glauben. Und doch konnte ich diesem Gedanken nicht Raum geben, wenn ich mich erinnerte, was zwischen uns vorgefallen war, wenn ich mir den innigen Ton zurückrief, mit dem er ihren Namen aussprach.
    »Ich bleibe natürlich hier«, hatte das Kind als Antwort auf meine Frage gesagt, »es geschieht immer so!« Was konnte ihn des Nachts aus dem Hause führen, und noch obendrein jede Nacht? Ich rief mir all die wunderlichen Sagen ins Gedächtnis, die ich je von finsteren und geheimen Taten gehört hatte, die in großen Städten begangen und eine lange Reihe von Jahren nicht entdeckt worden waren. So phantastisch auch viele dieser Geschichten waren, so konnte ich doch nicht eine finden, die eine Ähnlichkeit mit diesem vorliegenden Geheimnis gehabt hätte, und das Ganze wurde mir nur um so rätselhafter, je mehr ich mich um eine Erklärung abmühte.
    Mit solchen und einer Menge ähnlicher Gedanken beschäftigt, fuhr ich fort, zwei lange Stunden in der Straße auf und ab zu gehen. Endlich begann ein schwerer Regen zu fallen, und von Ermattung überwältigt, obgleich mein Interesse unvermindert blieb, nahm ich die nächste Kutsche, um mich nach Hause bringen zu lassen. Ein lustiges Feuer prasselte auf dem Herde, die Lampe brannte hell, meine Uhr empfing mich mit ihrem alten, traulichen Willkommensgruße; alles war ruhig,
warm, behaglich und in einem erfreulichen Gegensatze zu dem unheimlichen Dunkel, das ich eben verlassen hatte.
    Ich setzte mich in meinen Lehnsessel, und indem ich es mir in den weichen Polstern behaglich machte, malte ich mir in Gedanken das kleine Mädchen in seinem Bette aus: allein, unbewacht, unbehütet – oder doch nur von den Engeln im Himmel – und doch friedlich schlummernd. Daß ein so junges, ätherisches, so zartes, feenhaftes Geschöpfchen die langen, öden Nächte an einem solch widerlichen Orte zubringen sollte, das wollte mir nicht aus dem Sinn.
    Wir lassen uns so leicht von Äußerlichkeiten beeinflussen und sollten eigentlich nur vernünftiger Überlegung Raum geben. Aber Eindrücke verblassen oft, wenn uns nicht solche äußerliche Momente zu Hilfe kommen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich so ganz und gar der Betrachtung dieses Erlebnisses hingegeben hätte, wenn ich nicht diese Unmenge phantastischer Dinge bunt durcheinandergewürfelt in dem Laden des Raritätenhändlers gesehen hätte. Sie drängten sich mir immer wieder auf, wenn ich an das Kind dachte, und indem sie gleichsam unzertrennlich von ihm waren, führten sie mir die Lage dieses Geschöpfchens in greifbarer Deutlichkeit vor Augen. Ohne meiner Phantasie Zügel anzulegen, sah ich Nells Bild von allem umgeben, was ihrer Natur widersprach und den Wünschen ihres Alters und Geschlechts durchaus fernlag. Wenn mir diese Umgebung gefehlt und ich mir das Kind in einem ganz gewöhnlichen Zimmer hätte vorstellen müssen, in dem nichts Ungewöhnliches oder Unnatürliches gewesen wäre, dann hätte höchstwahrscheinlich ihr merkwürdiges und einsames Leben viel weniger Eindruck auf mich gemacht. So aber schien es mir, als lebte sie in einer Art Allegorie. Und da sie von diesen phantastischen Gestalten umgeben war, hatte sie so viel
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