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Schneekuesse

Schneekuesse

Titel: Schneekuesse
Autoren: Gaby Hoffmann
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Kapitel 1
     
    Netty schleudert ihre Einkaufstasche auf den Küchentisch. Ein hässliches Knacken erinnert an die Eier, die mal wieder zuunterst lagen. „Du hast was?“
    „Ist doch Weihnachten, und da dachte ich ...“ Ulf schnappt sich ein Geschirrhandtuch, um den Eiermatsch aufzuwischen. 
    Netty würde sich normalerweise wahnsinnig darüber ärgern, dass er nun das saubere Handtuch einsaut, aber diesmal ist es ihr egal. „Ein Mal, nur ein einziges Mal möchte ich Heiligabend meine Ruhe haben, so war es verabredet. Und dir fällt nichts Besseres ein, als wieder diese ganze Bagage einzuladen!“
    „Es ist WEIHNACHTEN! Das Fest der Familie.“ Ulf hängt das schmierige Handtuch ruhig zurück auf den Haken. 
    „Deine Familie! Phh ...“ Netty denkt an Ulfs langweilige Schwester, die es fertigbringt, vier Stunden auf dem Sofa hocken zu bleiben. Bewegen würde sie sich lediglich, um ihre Hände nach allem Essbaren auszustrecken, was in ihre Nähe kommt. 
    „Ich habe Mutter gesagt, sie braucht nichts mitzubringen. Wir kümmern uns um alles.“ 
    „So, na dann mach mal schön! Sonst gibt es Würstchen und Kartoffelsalat. Und zwar vom Discounter. In Originalverpackung auf den Tisch!“
    Ulf zuckt die Schultern. „Du weißt doch genau, ich habe vorher noch Dienst ...“
    Netty sieht ihre Schwiegermutter vor sich, die sich dank der ausgezeichneten Witwenpension eine Haushälterin leistet, welche sie nach allen Regeln der Kunst verwöhnt. Und an sieben Tagen die Woche schläft sie aus, geht zur Kosmetikerin und zur Fußpflege ... Netty seufzt innerlich. Komischerweise sind immer genau die Menschen, die selbst kaum Verpflichtungen haben, die Besucher. Die Gastgeberrolle wird meistens auf Frauen abgewälzt, die sich sowieso rund um die Uhr um andere Menschen kümmern müssen und für die so etwas wie Ausschlafen ein Fremdwort ist.
    Netty merkt, wie die Hitze ganz langsam in ihr aufsteigt. So von unten nach oben. Sie pustet sich einige Haarsträhnen aus dem feuchten Gesicht. Demonstrativ wendet sie ihr Gesicht ihrem Mann zu. Ob der wohl bemerkt, wie sie sich fühlt? 
    Aber Ulf lehnt an der Küchentheke und blättert im Wirtschaftsteil der Zeitung. Die Einkaufstasche steht vergessen und unausgepackt neben ihm.
    „Scheißweihnachten! Dieses Jahr gibt es keinen Baum, keine Geschenke und kein Festessen!“, schreit Netty ihn an.
    Ulf zuckt noch nicht einmal zusammen. Ohne hochzugucken, blättert er die Zeitung um. „Natürlich gibt es das. Es ist Weihnachten!“
    „Dann kümmere du dich gefälligst um alles! Du ...“
    Ein Scheppern aus dem Kinderzimmer unterbricht Nettys Wutanfall. Lauter ist das sofort einsetzende Kindergebrüll: „Maaami! Sören hat meine Giraffenlampe runtergeschmissen.“ Tränenüberströmt erscheint der fünfjährige Tjark im Türrahmen, um sich über seinen dreijährigen Bruder zu beschweren.
    In dem Moment läutet das Telefon. Erleichtert, dass er sich nicht um den Kinderzimmerkrieg kümmern muss, greift Ulf sofort zu. „Ach, Tante Rita, natürlich haben wir dich nicht vergessen. Natürlich kannst du Weihnachten kommen. Natürlich ...“
    Tjark schreit inzwischen so laut, dass Netty beinahe die Türklingel überhört hätte. Automatisch zerrt sie das fleckige Eierhandtuch vom Haken, um es auf dem Weg zur Tür nebenbei im Schlafzimmer in den Schmutzwäschekorb zu befördern. 
    „Das ist sooo ungerecht! Nie kümmerst du dich um mich!“, Tjark greift nach Nettys Lieblingsvase, ein 50er-Jahre-Stück vom Flohmarkt, und droht damit, diese auf den Boden zu schmeißen.
    Netty legt einen erstklassigen Sprint hin und entreißt ihrem Sohn das gute Stück. Das Eierhandtuch hat sie sich bei dieser Aktion wie einen Schal um den Hals drapiert. Die Enden liegen lässig auf den Schulterpolstern ihres Wintermantels, den sie immer noch anhat. In der Hand schwingt sie die Vase, während sie die Tür öffnet. Netty ist sich nicht bewusst, welch seltsames Bild sie abgibt. 
    Hinter ihrem Rücken lugt der tränennasse, wutrote Kopf ihres Sohnes neugierig hervor.
    „Guten Abend, Frau Kästner. Ich wollte ...“
    Auch das noch! Die alte Wichtigtuerin aus dem dritten Stock! Sicher will sie mal wieder fragen, ob Nettys Familie versehentlich die Waschzeit vertauscht habe. Oder sie möchte darauf hinweisen, dass die Glühbirne unten durch ist. Man müsse mit kleinen Kindern schließlich besonders aufpassen, damit keines in der Dunkelheit auf der Treppe daneben trete. Diese Gedanken schießen Netty blitzschnell
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