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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast
Autoren: Georges Simenon
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oder einem der Ahbad-Brüder vor einem kleinen Café in Tophane zu sitzen, Selim Bey oder Tevfik beim Verse-Rezitieren zuzuhören, die vom Albaner gestopfte Haschischpfeife zu rauchen, die Überreste vergangener Pracht zu betrachten und dabei mit den anderen zusammen laut zu träumen.
    Sie kamen zurück, einer nach dem anderen: Erst Müfti, der gegen den Völkerbund wetterte, weil er ihm nicht zu seinen Ländereien verhalf; dann Amar Paşa, der sich der Clique anschloß, aber zwei- oder dreimal die Woche mit Nouchi ausging; schließlich Stolberg, der in seinen Akzent zurückverfallen und zwei Wochen lang steifer als sonst war.
    »Es hat sich alles recht gut wieder eingerenkt«, sagte der Leiter des Ausländeramtes, als Jonsac ihn im Auftrag der Botschaft wieder aufsuchte.
    Es folgte das Ritual mit dem türkischen Kaffee und der Zigarette.
    »Wenn man unsere Stadt kennt, kommt man nicht mehr ohne sie aus, nicht wahr?«
    Er lächelte auf eigenartige Weise, halb sanft, halb ironisch.
    »Da könnte man Ihnen anderswo Millionen anbieten …«
    Jonsac dachte einen Augenblick lang an sein zerfallendes Herrenhaus in einem weit entfernten Tal Südwestfrankreichs, an den leerstehenden, sicherlich inzwischen ausgeplünderten Bauernhof. Es ging nicht um Millionen, doch ein Wert war es allemal, gleichwohl konnte er sich nicht aufraffen, das Schiff zu nehmen und acht Tage zu verreisen.
    »Hier muß man dem Leben seinen Lauf lassen … Es ist stärker als wir.«
    Es waren die Worte des Beamten, der immerfort die Perlen seiner dicken Bernsteinkette weiterschob. Vielleicht hatte auch er seine geheimen Gedanken, seine geheimen Wünsche, seine Laster?
    Jonsac, wieder ganz der alte in seinem grauen Anzug und dem falschen Kragen aus Zelluloid, sah ihn nur an.
    »Die Ausländer begreifen das oft nicht …«
    Im Hof wurde wieder ein Gefangener abgeführt, ein Italiener, der ohne Papiere aufgegriffen worden war.
    »Nehmen Sie noch eine Zigarette …«
    Es schien Jonsac, als würde sie nach Haschisch schmecken, und die Wolke, die ihn umhüllte, erinnerte ihn an die vielen Nächte bei Müfti und anderswo.
    »Auch Madame de Jonsac ist ruhiger geworden.«
    Das »Madame« erschreckte Jonsac. Er war diese Bezeichnung noch nicht gewohnt. Er sah auf, und dem Türken wurde peinlich bewußt, daß er gegen die Höflichkeitsregeln seines Landes verstoßen hatte.
    »Verzeihen Sie mir meine ungebührliche Neugier …«
    Jonsac errötete und rückte sein Monokel zurecht.
    »Ich danke Ihnen.«
    »Ich hoffe, Sie bleiben lange bei uns.«
    Er hätte antworten können:
    »Für immer!«
    Wohin sonst hätte er gehen können?
    Er würde weiter hin und her pendeln zwischen dem Bosporus und Marmara, zwischen der Prinzeninsel und Prinkipo, zwischen Stambul, Galata und den alten Vierteln von Pera, zwischen den kleinen, von Feigenbäumen beschatteten Einheimischen-Cafés und der Konditorei der Grande Rue, zwischen der Bar des › Pera Palas‹ ,dem › Maxim‹ und dem › Chat Noir‹ .
    Nouchi hatte gehofft, ihn dem alten Trott zu entreißen, aber es war ihr nicht gelungen. Sie selbst brauchte jetzt das träge Dahingleiten der Kayiks auf dem Bosporus, den Mondschein über dem Friedhof von Eyüp, den glühenden Abendhimmel über dem Goldenen Horn.
    Die Miene des Beamten wurde ernst.
    »Die Eltern wollten das Mädchen nach Frankreich schicken, nach Berck, oder wie der Ort bei Ihnen heißt, man behandelt dort Knochenerkrankungen …«
    Jonsac sagte nichts.
    »Sie wollte nicht. Der Wiener Chirurg, der jeden Monat herkommt, schätzt, daß sie ein Jahr lang im Gips liegen wird …«
    Auf den Lippen des Beamten erschien wieder das Lächeln von vorhin, hintersinnig, ein wenig entrückt wie das eines Rauchers, und die Bernsteinkette wanderte unermüdlich.
    »Sie wollte nicht aus der Türkei weg …«
    Es erfüllte ihn mit Stolz, mit herausforderndem Stolz.
    »Man hat ein spezielles Gefährt für sie bestellt, das sie selbst bedienen kann, wie ein Fahrrad.«
    »Wird sie wieder gesund werden?«
    »Sie wird nie wieder normal gehen können. Aber ist das so wichtig? Sie ist reich …«
    Jonsac biß sich auf die Lippen und verabschiedete sich.
    Auf der Straße fragte er sich, ob nicht Leute, die sehr viel älter, sehr viel intelligenter waren als er, sich über ihn mokierten.
     
    Man kann ihnen in Stambul noch begegnen. Nur Herr Pastore ist inzwischen gestorben. Seine Neuralgien waren in Wirklichkeit eine Angina pectoris gewesen, und eines Morgens fiel er beim Rasieren tot
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