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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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1
    An einem leuchtend blauen Novembermorgen beschließe ich, mein Kind wegzubringen.
    Paule ist schon vor langer Zeit dazu bereit gewesen, hat es ja auch gemacht, bei mir aber dauerte es siebzehn Jahre bis zu der schockhaft gewonnenen Einsicht, dass es so nicht weiterging, dass ich nicht noch einmal würde von vorn beginnen können, dass das ganz sicher keinem Menschen zuzumuten war, bis ich diesen Entschluss fassen und wahr machen konnte. Nichts wird ihn mehr umstoßen. Sie oder ich. So einfach ist das.
    »Muss ich nicht zur Schule?«, fragt sie, als ich sie wecke und ihr sage, wir würden eine Reise machen. Sie versteht nicht, schließlich sind keine Ferien.
    »Das macht nichts. Du hast frei«, lüge ich und ziehe den Reißverschlussfeiserschluss am roten Rollkoffer zu. »Ich will mit dir ans Meer fahren. Sehen, wie es schneit.« Sie blickt mich an, als wäre nicht sie mein Kind, sondern ich das ihre, und starrt ein Weilchen vor sich hin. Dann geht sie ans Fenster um nachzusehen, ob es schneit. Der Himmel ist grellblau mit einem Stich ins Grüne, ein böiger Wind bläst Papierschnipsel und eine geblähte Tüte über den Asphalt.
    »Kein Schnee.« Sie setzt sich wieder aufs Bett und bleibt mit rundem Rücken hocken.
    »Eben. Darum fahren wir nach Norden. Ans Meer. Dort schneit es.« Kurze Sätze. Klare Sätze. Eindeutigkeit. Langsam steigt sie in ihre Kleider, zieht die Stiefel an, setzt sich die himbeerrote Mütze auf.
    »Die Jacke, Lio. Nimm die warme. Die grüne Winterjacke.« Keine Frage, kein Widerstand.
    Auf der Treppe schiebt sie ihre warme und so erstaunlich weiche Hand in meine. Sie steigt ins Auto, schnallt sich an und wartet still, bis ich das Gepäck verstaut und den Müll weggebracht habe.
    Anfahren, abbremsen, runterschalten. Montagmorgen, zehn vor acht. Ich taste nach den Knöpfen des Radios, trommle mit den Fingern aufs Lenkrad. Rexona hat die Glöckli a Fraue verteilt – so händs gmerkcht, wie viel sie sich beweget . Der Verkehrsfunk meldet Staus und Stockungen bis ans Brüttiseller Kreuz.
    Alles muss sich ändern, jetzt sofort. So schnell wie möglich auf die Autobahn, die uns wegführen wird, dahin, wo das Mädchen bleiben soll. Im Schneetreiben. Am Meer. Jedoch. Schon stecken wir im Berufsverkehr auf der Quaibrücke fest, links die Limmat, rechts der See und hinter mir das Mädchen, das sich jetzt aufrichtet mit zerdrücktem Haar und aus dem Seitenfenster aufs Wasser schaut, das zufriedene Gesicht glänzend vor Freude über diesen besonderen Morgen. Sie lächelt nicht. Sie vertraut mir.
    Ich drehe das Radio aus und folge Lios Blick nach Süden. Auf der spiegelnden Fläche des Sees kleben zwei Schwäne und ein Fischerboot wie eine reglose Kinderbastelei vor den so nah gerückten Bergen. Jeder Zacken, jedes Eisfeld, jeder Grat ausgestanzt aus einem weißlich blauen Himmel, als wollten sie von unseren ungeübten Städterhänden betastet werden, als wollten sie sich einprägen in Haut und Körperoberflächen. Über der Alpenkette reißen blasse Schlieren von einer Wolkenhaube, driften in die Höhe, während die Welt stillsteht, kein Hauch die glänzende Wasserfläche kräuselt. Scharfes Licht schneidet die Augäpfel. Das Föhnfenster steht offen.
    Anhaltendes Hupen, der Montagmorgenschleichverkehr setzt sich wieder in Bewegung, ich lasse die Kupplung kommen und den Wagen bis zum nächsten Rotlicht rollen. Wind schüttelt die leer gefegten Platanen am Seeufer, riffelt das Wasser zu kleinen schnellen Wellen, färbt es zinngrau, dann tintenschwarz, setzt ihm hastige Schaumkronen auf, während der Himmel sich verdunkelt, als wollte es wieder Nacht werden. Ausnahmezustand. Der wilde Föhn, der zahme Föhn, der Dimmerföhn. Meteorologischer Sonderfall, denke ich. Trüb der Norden, grell der Süden, gläserne Luft und Windstille, bevor die Böen lostoben, der Föhn zusammenbricht, der Regen einsetzt. Ausnahmezustand, der nur kurze Zeit bestehen kann, bevor eine Änderung eintritt, unweigerlich, bevor eine Rückkehr zur Normalität passiert oder, das will ich mir nicht eingestehen, die Ausnahmesituation ihrerseits zur Normalität gerinnt und, gefährlich jetzt, der Sturmwind des Wandels Bäume knickt, Dächer abdeckt, Funken aus den Öfen bläst und eine Feuersbrunst entfacht. Wilder Föhnwind heult, wimmert, wirbelt dürres Herbstlaub, lässt eine Staubsäule über der Straße stehen, schlägt Fensterläden. Das Ungebärdige des Abnormen. Noch bevor das Föhnfenster sich schließt und der Blick sich
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