Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkelste Blau

Das dunkelste Blau

Titel: Das dunkelste Blau
Autoren: Tracy Chevalier
Vom Netzwerk:
Prolog
    Es begann mit einem Flackern, einer Bewegung zwischen Dunkelheit und Licht. Es war nicht schwarz, es war nicht weiß; es war blau. Ich träumte blau.
    Es strömte wie vom Wind getrieben in Wellen zu mir hin und von mir weg. Es preßte sich in mich hinein, ein Druck eher wie von Wasser als von Stein. Ich hörte den leiernden Singsang einer Stimme. Dann sprach auch ich, Worte strömten aus mir heraus. Die andere Stimme begann zu weinen; danach schluchzte ich. Ich weinte, bis es mir den Atem nahm. Der Druck des Blaus schloß mich ganz ein. Es ertönte ein dumpfer, hallender Schlag, wie das Geräusch einer schweren Tür, die ins Schloß fällt, und das Blau wurde durch ein Schwarz ersetzt, das so vollständig war, daß es niemals mit Licht in Berührung gekommen sein konnte. Ich starrte in dieses Nichts; als ich es nicht mehr aushielt, schloß ich die Augen.
    Ich erwachte flach auf dem Rücken liegend, die Hände um meinen Nacken verkrampft, die Ellbogen gegen die Brüste gepreßt. Meine Glieder waren steif, und mein Herz raste. Ich starrte an die Decke. Über der Dunkelheit schwebten Reste des Blaus, verblassend, verschwindend, dann für einen kurzen Moment noch einmal hervorblitzend. Eine Stimme hallte in meinem Gedächtnis nach, ich spürte noch meine Kehle vibrieren, fühlte das Ende eines Satzes in der Luft hängen.
    Langsam begann ich zu fühlen, wie die Matratze gegen meinen Rücken drückte, gegen meine Schenkel, meine Fersen und meinen Kopf, und spürte Rick neben mir, schlafend. Ich schliefnicht wieder ein, sondern lag wach und starrte in die Dunkelheit. Dabei versuchte ich, mir über die zurückgebliebenen Bruchstücke des Traums klar zu werden. Sie hingen noch für einige Momente in meinem Gedächtnis, verschwanden dann und hinterließen nur eine Erinnerung an das Blau. Es war kein gewöhnliches Blau wie Ultramarinblau oder Himmelblau oder Königsblau. Am Morgen sah ich mir alles Blaue im Haus an und fand nirgends etwas Ähnliches, weder in Tinte noch in Stoff oder einer Wandfarbe. Ich sah das Blau noch gut vor mir, aber noch besser erinnerte ich mich an die widersprüchlichen Gefühle, die es hervorrief: ein plötzliches Glücksgefühl und eine schmerzliche Traurigkeit.
    Das war der Anfang.

1. Die Jungfrau
    Sie hieß Isabelle, und als sie ein kleines Mädchen war, wechselte ihr Haar die Farbe in der Zeit, die ein Vogel braucht, um nach seinem Weibchen zu rufen.
    In diesem Sommer brachte der Duc de l’Aigle eine Statue von der Jungfrau mit Kind und einen Topf Farbe aus Paris für die Nische über dem Kirchentor. Es gab ein großes Festessen im Dorf an dem Tag, als die Statue aufgestellt wurde. Isabelle saß am Fuß der Leiter und sah Jean Tournier zu, wie er die Nische in einem tiefen Blau strich, dem Blau des klaren Abendhimmels. Als er seine Arbeit beendet hatte, kam die Sonne hinter einer Wolkenwand hervor und ließ das Blau so klar erstrahlen, daß Isabelle ihre Hände hinter dem Nacken verschränkte und ihre Ellbogen gegen die Brust preßte. Als die Sonnenstrahlen sie trafen, tauchten sie ihr Haar in einen kupfernen Schein, der blieb, auch als die Sonne untergegangen war. Seit diesem Tag wurde sie La Rousse genannt.
    Der Spitzname verlor jede Herzlichkeit, als Monsieur Marcel ein paar Jahre später im Dorf ankam, mit Händen, die von Tannin verfärbt waren, und Worten, die er von Calvin geliehen hatte. In seiner ersten Predigt, im Wald außer Sichtweite des Dorfpfarrers, erklärte er, daß die Jungfrau ihnen den Weg zur Wahrheit versperre.
    – La Rousse ist beschmutzt durch die Statuen, die Kerzen und den schmückenden Plunder. Sie ist unrein! rief er. Sie steht zwischen euch und Gott!
    Die Dorfbewohner drehten sich um und starrten Isabelle an. Sie klammerte sich an den Arm ihrer Mutter.
    Wie kann er davon wissen? dachte sie. Nur Maman weiß Bescheid.
    Sie hatte ihm doch sicher nicht erzählt, daß Isabelle an jenem Tag zu bluten angefangen hatte und daß sie nun ein rauhes Tuch zwischen ihren Beinen hatte und einen Schmerzklumpen im Bauch. Les fleurs , hatte ihre Mutter es genannt, besondere Blumen von Gott, ein Geschenk, worüber sie schweigen sollte, denn es unterschied sie von den anderen. Sie sah auf zur Mutter, die Monsieur Marcel stirnrunzelnd anblickte und den Mund öffnete, als wolle sie sprechen. Isabelle drückte ihren Arm, und die Mutter schloß den Mund zu einer angespannten geraden Linie.
    Danach ging sie zwischen ihrer Mutter und Marie zurück, die Zwillingsbrüder trotteten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher