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Eldorin – Das verborgene Land (German Edition)

Eldorin – Das verborgene Land (German Edition)

Titel: Eldorin – Das verborgene Land (German Edition)
Autoren: Gabriele Wohlrab
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Start Der fremde Junge 
    Fast reglos stand die schmale Gestalt am Fenster und
versuchte, gegen den wolkenverhangenen Nachthimmel etwas zu erkennen. Der
Hunger hatte sie nicht einschlafen lassen, denn das Abendessen war wieder
einmal sehr dürftig gewesen. Sie verzog das Gesicht, als sie an das gesalzene
Suppenwasser dachte, in dem wie versehentlich ein wenig Grünzeug gedümpelt hatte.
Durch die Ritzen der undichten hohen Fenster kroch gnadenlos die Kälte in den
Schlafsaal der Mädchen, und sie fror jämmerlich in ihrem dünnen Nachthemd. Maya
hauchte gegen die schmutzigen Scheiben und polierte sie mit ihren Fingern, um
besser sehen zu können. Windböen peitschten den Regen unermüdlich dagegen, und
dieser hinterließ ein feines Geflecht aus Wasserstraßen, das die Sicht noch
mehr einschränkte. Ein unheimlicher Laut hatte sie ans Fenster gelockt. Er war
irgendwo aus der Dunkelheit da draußen gekommen. Wie eine Eisnadel war er in
ihr Bewusstsein gedrungen und hatte ihr einen Schauder über den Rücken gejagt.
Es hatte sich angehört wie ein Angstschrei, allerdings nicht wirklich
menschlich. Welches Wesen machte solche Geräusche?
    Als ein Blitz den düsteren Himmel zerschnitt,
zuckte Maya erschrocken zusammen, denn sie erkannte für wenige Augenblicke ganz
nah unter den sturmzerzausten Bäumen deutlich die Umrisse eines riesigen
tintenschwarzen Pferdes, auf dem ein Reiter in einem langen dunklen Mantel saß.
Einen Moment lang zweifelte sie an ihren Sinnen, so gespenstisch wirkte die
Szene und erinnerte sie eher an einen Gruselfilm als an die Wirklichkeit.
Instinktiv trat sie einen Schritt zurück, obwohl sie wusste, dass sie aus
dieser Entfernung im Schatten des Zimmers nicht gesehen werden konnte. Oder
etwa doch?
    Ein gewaltiges Donnergrollen aus den sich
bedrohlich auftürmenden nachtgrauen Wolkenmassen ließ das Tier den Kopf
zurückwerfen und ein durchdringendes, schrilles Wiehern ausstoßen. Trotz des
beständig niederprasselnden Regens verursachten die eisenbeschlagenen Hufe nun
ein deutlich klackendes Geräusch. Maya hielt den Atem an: Der Mann hatte den
gepflasterten Vorhof des alten Hauses erreicht. Sie drückte sich in die
Fensternische und hoffte, dass er nicht zu ihr aufsah. Er war jetzt so nah,
dass sie ihn im Licht der Hausbeleuchtung näher betrachten konnte. In den
Falten des vor Nässe glänzenden Mantels lief der Regen in dichten Rinnsalen
hinab. Der Fremde hatte etwas – möglicherweise einen Sack – vornüber
geworfen, und ließ das Ding vorsichtig zu Boden gleiten. Dann sprang er mit
einer geschmeidigen Bewegung vom Pferd und beugte sich über das große Bündel.
Maya keuchte überrascht auf, denn das, was sie für einen Sack gehalten hatte,
bewegte sich – ein Junge war es, der sich, in zerschlissene Lumpen
gehüllt, auf den Boden kauerte. Er hatte die Arme um den Körper geschlungen und
zitterte vor Kälte. Offensichtlich war er verletzt, denn Maya bemerkte nun ein
bandagiertes Bein. Er schien ihr etwa in ihrem Alter zu sein, vielleicht auch
ein bisschen älter; das war bei diesem trüben Licht unmöglich festzustellen.
Einen Augenblick lang fühlte sie sich an ihre eigene Ankunft hier in diesem
Waisenhaus erinnert, und sie empfand tiefes Mitleid mit ihm. Ihr war erzählt
worden, dass sie vor über fünfzehn Jahren als wenige Wochen altes Findelkind im
dichten Schneetreiben ins Waisenhaus gebracht worden war. Ihr genaues
Geburtsdatum hatte sie allerdings nie erfahren. Die Alten im Dorf erinnerten
sich nicht, jemals einen kälteren und schneereicheren Winter erlebt zu haben.
    Sie wusste nichts über sich, nicht einmal, ob
sie ihre großen braunen Augen und ihr lockiges dunkles Haar, das sie ziemlich
lang trug, von ihrem Vater oder ihrer Mutter geerbt hatte. Man hatte ihr nur erzählt,
dass sie ein hübsches niedliches Baby gewesen sei. Nun, niedlich war sie nicht
mehr, hoffte sie. Die damalige Köchin hatte ihr zugetragen, dass man sie
eingewickelt in ein silbrig glänzendes Tuch von erstaunlich feiner Machart
gefunden hatte. Irgendjemand hatte sie in einer der frostklirrenden
Raureifnächte auf den Stufen zur Haustür abgelegt, den Klingelzug betätigt und
dann das Weite gesucht.
    Maya richtete ihre Aufmerksamkeit nun erneut auf
den finsteren Mann. Er hatte etwas Verschlagenes an sich, und es lag etwas
Unheimliches in der Art, wie er sich bewegte. Vorsichtig blickte er sich immer
wieder um, als hätte er Verfolger zu fürchten. Vielleicht war auch die
hässliche Narbe der Grund, dass er
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