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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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Möglichkeit der Diagnostik. Sollte ich ihr aufgrund einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit eine Totgeburt zumuten? Nicht, dass ich ihr Mutterliebe nicht zutraute. Lio liebt wie kaum ein Mensch den anderen, bedingungslos aufgrund seiner schieren Anwesenheit, aufgrund seines Hierseins, weil er der ist, der er ist, und nicht, weil er dieses oder jenes tut, unternimmt, leistet und erreicht. Liebe war nicht das Problem. Lesen war das Problem. Rechnungen bezahlen, Formulare ausfüllen, regelmäßig Windeln wechseln und die Erfüllung behördlicher Auflagen. Das Baby war nicht das Problem, sondern die Verantwortung, die es mit sich brachte, und der Verzehr an Vaterenergie. Großvaterenergie in diesem Fall. Ich war das Problem. Der Kraftverschleiß und eine bösartige Entschiedenheit, mich vom Schicksal kein zweites Mal in Fesseln legen zu lassen. Alles würde von vorn beginnen, der Rest meines Lebens dahingehen im Dienst an diesen beiden. Ich war noch nicht alt. Zweiundvierzig erst. Für Paule wurde es Zeit, erwachsen zu werden. Deshalb war ich losgefahren. Um das schwangere Kind zu seiner Mutter zu bringen. Ich wollte es ihr vor die Tür stellen mit einer Tasche und ohne Brief. Und abreisen. Frei sein. Endlich. Blauweißgrün, die Postkarte, ich drehe sie zwischen den Fingern, versuche in den Druckbuchstaben Paules Schrift zu erkennen, überlege, woher sie die Bilder hat und warum sie sich zum ersten Mal in siebzehn Jahren die Mühe macht, auf Lio einzugehen, ihre Interessen, ihre Fähigkeiten, ihre Möglichkeiten zu verstehen – auch hat sie dieses Mal vergessen, den Hinweis auf den Ort abzureißen, der auf der Karte abgebildet ist. Rekowo. Auf der Vorderseite ist neben der bunten Sklep-Tankstelle ein moosbewachsenes Bauernhaus zu sehen, einstöckig, mit eingestürztem First und aufgerissenem Dach, in das sich das riesenhafte Reptil der Zeit hineinverbissen hat.
    Glücklicher Zufall, dass Paule mir in dem Augenblick, als ich von Lios Schwangerschaft erfuhr, einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort gab. Sofort beschloss ich, Lio zu ihr zu bringen, um auf dem Rückweg zu Josefine zu fahren.
    Plätscherbrunnen, Gipsrepliken der Venus von Milo, Kunstfaserdecken mit Folkloremuster auf den Tischen. Schwarzgrundig, bunt gestreift. Athos. Hier sitze ich nun. In einer griechischen Taverne, wie es sie überall in Deutschland und, wie ich vermute, überall auf der Welt gibt, ausgenommen in Griechenland. Athos heißt auch der Wein, ich bestelle Bier, Oktopus-Salat, gebackene Paprikaschoten, bringe aber nichts hinunter und frage schließlich, ob ich mal telefonieren kann, und stelle fest, dass ich Josefines Nummern nur gespeichert, doch nirgendwo notiert habe. Wie die Müdigkeit befällt mich übersprungshaft ein animalischer Hunger, und ich esse die kalten Schoten auf, trinke mit einem Schluck das Bierglas halb leer. Dann eine Implosion, ein Verpuffen gestauter Energie, ein Nachlassen der Spannung, Auflösung all dessen, was mich siebzehn Jahre zusammengehalten, auch gestützt hat. Jetzt bist du frei. Ich habe den Rucksack, den das Schicksal in Gestalt meiner Tochter mir aufgebunden hat, abgesetzt. Sollen andere sich kümmern. Sollen andere jetzt ran. Waren ja schon, denke ich böse und bestelle eine Karaffe Athoswein. Den Rucksack habe nicht ich abgeworfen, Lio selbst hat ihn mir, ohne es zu wissen, von den Schultern genommen, und da stehe ich nun, nackt und frei wie das Frühlicht. Sentimental und pathetisch wie der alte Esel, der ich schon so lange bin. Leer, zusammenhanglos, haltlos ohne Lio, eine zerstückelte Existenz, umgeben von dorischen Säulen unter einem Fischernetz, in dem die Krebse wie tote Spinnen hängen. Verhärteter Außenpanzer aus Kalk und Chitin, das löst sich nicht im Bier, das schwimmt auf der Oberfläche des Bewusstseins, direkt unter der Schädeldecke, zieht sich in weißen Fäden durch die gelbe Hirnflüssigkeit, tausende Bläschen, das löst sich nicht im Ouzo, zu dem ich überging, nachdem das erste Glas mit der Rechnung gekommen war. Winzige Glitzerpartikel flirren in der trägen, farblosen Flüssigkeit. Nicht Verhärtung, sondern die schale Leere des Versagens steckt mir nach jedem Glas noch immer im Hals und lässt sich nicht hinunterwürgen. Sie erbrechen, Lio hat es mich gelehrt. Ich gehe hinaus und kotze ins Gebüsch. Das Haus gegenüber, ein schwarzer Kasten und Josefines Wohnung, dunkel wie zuvor. Ich gehe zurück und beobachte das Haus durch die müden Pflanzen auf dem Fensterbrett
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