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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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fahre los.
    Ein trüber Morgen, bedeckter Himmel, Ich fahre ins Grau hinein Richtung Norden. Das Lenkrad vibriert, ich halte die Rechte mit gespreizten Fingern von mir, registriere das kaum merkliche Zittern, öffne und schließe die Faust, schüttle die Hand und fasse das Lenkrad fester. Viele Schattierungen von Grau. Asphalt, Straßenmarkierungen, der Himmel vor mir. Erneuerung der Fahrbahn bis November 2011. Wir bauen für Sie.Berliner Ring, Autobahndreieck Potsdam. Baustelle, gelbe Markierungen, sechsspurig auf engen Trassen. Baustellenende. Wir danken für Ihr Verständnis. Abfahrt Ferch. Ich verlasse die Autobahn, kehre um, da ich die Abzweigung nach Norden verpasst habe. Linker Hand blockieren polnische Laster die Abbiegespur, ich bin gezwungen, rechts zu überholen. Dreieck Werder abbiegen auf die A10. Während mein Auge den Bildhintergrund fixiert, huschen im Vordergrund, dem Blick unhaltbar, wie Gitterstäbe die hohen, schlanken Stämme junger Birken vorbei. Autobahndreieck Havelland, der Himmel reißt auf, nur wenig, ein heller Schein fällt über das Land, ich höre noch, wie Lio singt. Sacrow-Paretzer Kanal. Ein Lastschiff, schwarz mit weißem Rand, schiebt sich der Autobahnbrücke entgegen, blattlose Sträucher rechter Hand, alte knorrige Weiden. Parkplatz. Ein lauwarmer Bohnenkaffee am Currywurststand, bin froh, dass Lio nicht dabei ist, denn die Toilette ist nicht zu gebrauchen. Männer in orangefarbenen Hosen an einem Stehtisch vor der Wurstbude starren mich an aus geröteten Augen.
    »Was luegsch mich so behinderet a?«, murmle ich zwischen den Zähnen und starre zurück. Das habe ich von Lio gelernt. Autobahndreieck Berlin-Spandau, Autobahndreieck Havelland. John Surman. Stranger Than Fiction . Wie Perlen auf einer Schnur die kugeligen Kronen kleiner Obstbäume einer Allee, die parallel zur Autobahn verläuft. Lio spricht mit mir. Auf der nächsten Raststätte zeige ich wieder mein Bild herum, frage nach, laufe von einem zum andern, und während ich gehe, versuche ich mir klarzuwerden über mich. Ein Mann tritt hinter dem Tankstellengebäude von einem Bein aufs andere. Ein Klapptisch mit zwei Untertassen, auf denen Münzen liegen, ein Blumengesteck und auf dem Campingstuhl die Klofrau, drei Türen hinter sich. Männer-, Frauen-, Behindertentoilette. Wir gehören zum dritten Geschlecht. Stundenlange Umfahrung Berlins von West nach Nord. Auf den Drähten der Strommasten sitzen die Vögel als kleine Punkte. Leerer und leerer die Autobahn jetzt zwischen Berlin und Stettin. Schiffshebewerk Niederfinow. Auf der Gegenspur, mit überhöhter Geschwindigkeit, drei Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei. Hochbeinige Kiefern vor einer weiten Heidelandschaft, Flaumgras zwischen den Stämmen, Sonnenflecken am Boden. Grundhafter Ausbau. Wir bauen für Sie. Helles Novemberlicht im Rücken schiebt mich voran, dem Meeresrand zu. Hundert Kilometer bis Stettin. Höchstgeschwindigkeit. Wildwechsel möglich. Der Verkehr verliert sich. Uckermark. MV tut gut. Rot-weiß beflügelt. Querrillen jetzt, und ich muss das Tempo auf 60 senken, warum fahre ich und wohin? Minutenlang kommt mir keiner entgegen. Bauern auf den Feldern bei der Rübenernte. Riesige Weidenbäume. Endlose entvölkerte Landschaft. Hauslos, menschenleer. Lkw jetzt wieder und dann der Grenzübergang Pomellen. Ein Uniformierter winkt mich mit einem Zeigefinger durch. Ans Meer fahren, sehen, wie der Schnee fällt. Mehr fällt mir nicht ein. Nur noch, dass ich nicht zurück, dass ich nicht umkehren kann.
    Windschiefe Strommasten, Bauruinen, brachliegende Obstgärten, verwilderte Wiesen. Szczecin. Plattenbauten, McDonal d ’s, Kreiselverkehr. Centrum. Zweispuriger Stadtverkehr. Carrefour, Fiat, Media Markt, Geiz ist geil . BP- Tankstelle und die Sternenkranzflagge der EU gelb auf blau. Herbstallee, rote Stadtbusse. Eichbäume. Über die Oderbrücke, durch Hafenanlagen. Es beginnt zu regnen. Hafenkräne, sechsspurige Ausfahrt aus der Stadt. Das Stettiner Haff umrunden, Gdanska-Straße, Farby y Lakiery, es schüttet. Pfützen in den Schlaglöchern, der Wagen tanzt. Unter den Vorderrädern der Laster schäumt das Regenwasser wie Schlagrahm. Nordwärts jetzt auf der A 3, am Horizont klart der Himmel auf, ein helles Licht, das lockt und leuchtet. Ich überquere Bahngeleise, komme in Kiefernwälder, birkendurchsetzt. Ich nehme das auf, alles registrieren meine Augen, als wäre es das Letzte, was ich sehe. Jede Einzelheit brennt sich in die Netzhaut, stechende
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