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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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hindurch. Als er schließen will, verwickle ich den Wirt in ein Gespräch und frage ganz nebenbei nach der Frau von gegenüber, gelber Mantel, braunes Haar, er zögert und murmelt Unverständliches. Ich bitte ihn, nachzudenken, da meint er, sie habe den Wohnungsschlüssel bei ihm hinterlegt für den Fall, dass wir kämen, doch sei er sich nicht sicher, ob – ich habe ja kein junges Mädchen bei mir – ob ich der auch sei. Ich murmle, sie schlafe im Auto, greife nach dem Schlüssel und verlasse das Lokal.
    Josefines Wohnung ist unordentlich und seltsam leer. Einzelne Schuhe liegen herum, dreckiges Geschirr stapelt sich in der Spüle, aus halb geöffneten Schubladen lugen die Enden von Schals und die Zipfel ihrer Unterwäsche. Zeitungen, Papiere, Magazine, Bücher und Kataloge stapeln sich auf dem Tisch in der Küche und ungeöffnete Briefe auf einem Sideboard im Flur. Im Bad liegen Handtücher auf dem Boden, und der Duschvorhang hockt unentschlossen auf dem Rand der Wanne. Eine offene Parfumflasche, die Bürste im Waschbecken, und unter der Dachschräge im einzigen Zimmer steht ein Bett mit zerwühlten Decken. Das dringt ungewichtet in meinen besoffenen Kopf, bevor der Duft aus Josefines Kissen mir die Gedanken überflutet, doch ein letztes Bild nicht blockiert: Lio, wie sie auf Säulenbeinen, steif vom langen Sitzen, den Plattenweg zu den Toilettenhäuschen hinuntergeht, ein pummeliges Mädchen allein auf einer Autobahnraststätte irgendwo in Deutschland.
    Bitterfeld. Durch die Nacht rasen. Viel zu schnell. Nur du und die zehn Meter Straße vor dir. I Met the Woman with the Thousand Faces . Ich fahre mit offenem Fenster. Eisige Kälte, laute Musik. Die alten Boxen scheppern bei gewissen Frequenzen. Lou Reed. Ich singe, schreie jetzt. You better. Let go all your emotions. Gitarrenriffs. Schwer, sehr einfacher Beat. Lichter rasen auf mich zu, fliegen von mir weg. Explodieren auf der Windschutzscheibe und hinter den Pupillen. Stirnschutzscheibe. Sternschutzscheibe.
    Türen klappen. Auf und zu. Ohne mein Zutun, ohne meinen Einfluss. Sie klappen auf und zu im Wechsel. Türen klappen gleichzeitig, Kälte zieht herein, Türen schließen sich, verschlucken Menschen. Ich stehe da. Hebe den Arm. Türen klappen auf, und ich trete ein und stehe im Hellen, es ist früher Morgen, ich bin zurückgekehrt und stehe im Leuchten und Glitzern. Eine schrankwandgroße Espressomaschine, Chromstahlgefäße für Zucker- und Süßstofftüten, für Löffel und Papierservietten, dahinter leuchten Schüsseln gelb und rot und grün mit Gemüse und Salaten, Kännchen mit Saucen, Schälchen mit gerösteten Brotwürfeln und Softgetränke in Flaschen, Wollmützen in Ständern daneben und Regale mit Namenstassen, jodelnde Murmeltierschlüsselanhänger und Straßenkarten, heiße Würstchen, gebratene Eier und lappige Schnitzel in welliger Panade, Kartoffeln unter einer Schicht aus etwas Cremigem, blasse Brötchen und Tortenstücke pink und hellbraun, violett und weißlich, gelb und schwarzbraun, vollbusige Langmähnige auf Taschenbuchcovern biegen sich in muskelbepackten Männerarmen und schwarz-weiß karierte Titelblätter der Rätselhefte, Hunderte Sorten Schmatzriegel, Gummischnuller, Sonnenbrillen im Drehständer und blauweißgrüngelbrosaorangerotbunt die Kaugummipackungen, Pralinen in metallischen Papieren und verzweifelte Nelkensträuße in Cellophan, Autoputztücher, Arbeitshandschuhe und Putzmittel für Kunststoff, Glas, Gummi und Leder, für Polster, Scheiben, Felgen. Konny, wo ist das Klo? Barbiepuppen, Kinderzeitschriften mit Plastikspielzeug, in Plastik verpackt, Haarspangen und Modeschmuck. Lios dicke Finger auf den harten und kalten, den weichen und knisternden Oberflächen. Glanz und Glitzer, Lockungen und Zauber – Warenkorb an Warenkorb, Auslage für Auslage. Sie ist nicht in der Toilette, nicht an einem der Tische drinnen, nicht auf einer der Betonbänke draußen. In keinem der Autos, in keinem der Laster, ich schaue hinter jeden Busch, selbst in das versiffte Plastikhaus auf dem Kinderspielplatz. Ich zeige allen ihr Bild, ich frage und frage und hole schließlich einen Coffee to go, drei Packungen Zigaretten und einen Lappen für die Windschutzscheibe. Ganz zum Schluss überwinde ich mich und sehe auf dem Weg zurück zum Auto auch in die Mülleimer und Container. Während ich im Auto herumwische, verbrühe ich mir die zitternden Finger am Kaffee, der über den Rand des dünnen Kartonbechers schwappt. Dann starte ich den Motor und
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