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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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das ihn mit der langen Zunge fangen könnte, das ich verloren habe unterwegs. Und ich weiß, wie das feuchte Maschengewebe ihrer himbeerfarbenen Strickmütze riecht und wie es an der Nase kitzelt.
    Ich beginne meinen langen Weg am Meeressaum entlang. Schnell stapfe ich über den feuchten, harten Sand ohne mich umzuwenden, entschlossen, allein weiterzugehen. Ich lasse das Kind zurück, ich überlasse es seiner Kraft und seinem unbeugsamem Willen, dem letzten vermuteten Rest Barmherzigkeit einer mitfühlenden Menschenseele, die sich seiner annehmen würde. Ich überlasse das Kind seiner Zuversicht und seiner Kurzsichtigkeit und dem letzten Rest Hoffnung, der mir geblieben ist. Und gehe.
    Langsam setze ich Fuß vor Fuß, und jeder Schritt wird mir schwerer als der vorhergegangene. Dennoch. Trotzig gehen. Die Stirn gesenkt, mit dem Ärmel über Mund und Nase wischen, eine glänzende Rotzspur. Ich lausche. Nichts. Nur der Wind rauscht in meinen Ohren und die Brandung donnert schwer hinter mir. Ich sehe sie da stehen hinter mir, die lange Zunge im Wind, ein Lachen im Gesicht, beseelt von ihrem grundstürzenden, kreatürlichen Vertrauen, dass ich zurückkommen und sie holen werde, wo immer sie jetzt ist. Ich heule in den Ostseewind, der sich zum Sturm verdichtet jetzt. Ohrenbetäubend. Die flaschengrünen Wellen werfen Gischtkronen auf. Waagrecht treiben mir die Schneeflocken entgegen, stechen in die Wangen und die dünne Augenhaut. Erste Ausläufer der Steilküste in der Ferne, die sich an ihrer höchsten Stelle auf fast hundert Meter erhebt. Da hinauf will ich. Ich werde einen Weg finden und oben an der Kante stehen, zwischen den licht stehenden Kiefern, auf hart gepresstem Sandboden, von dem sich die gefräßige See jedes Jahr ihre paar Meter abbeißt und verschluckt. Ich will in den Wind und in die Meeresleere schreiten. Bis dahin kann ich denken. Dahinter ist Schwarz.
    Ich laufe, stapfe entschlossen die menschenleere Küste entlang, diesen schmal und schmäler werdenden Streifen Land, den das Wasser und das Kliff mir lassen. Schweiß rinnt mir über den Rücken, ich keuche, bleibe atemlos stehen. Im hellgrauen Himmel leuchten gelbliche Flecken auf und verschwinden wieder. Rauschend bewegt sich etwas in der Ferne und kommt auf mich zu. Ich kneife die Lider zusammen. Ein Schwarm wilder Flugwesen stürmt die Küste entlang, steuert nur wenige Meter über der Wasseroberfläche auf mich zu. Ein schnell fliegendes, weißes Federngetümmel, Schnabelgewühl stürzt heran. Eine Horde Schwäne mit lang gereckten Hälsen flappt schreiend vorbei, zerstreut sich auf dem offenen Meer, sammelt sich und kommt zurück, stößt mir aus weit geöffneten Schnäbeln sein heiseres Kreischen entgegen, sodass ich mich umdrehe und unwillkürlich die Arme hebe. Da sehe ich das Mädchen hinter mir. Es schiebt seinen Bauch vor sich her, pflügt sich durch den Wind und die tosende Brandung, den Kopf mit der himbeerroten Mütze gesenkt, von Vögeln umschwirrt. Ich wende mich um und gehe weiter. Als ich wieder zurücksehe, geht sie in unverändertem Abstand hinter mir her. Geht einfach Schritt für Schritt, steht still, wenn ich stehe, sieht den Schwänen nach, die den Winterhimmel mit den biegsamen Hälsen zerschneiden, ihn peitschen mit dem zeternden Geschrei. Es kann nicht Lio sein. Und doch. Ich warte, doch sie sieht nicht auf. Das Meer hat unter meinen Stiefeln ein helles Spitzenband ausgerollt, als wollte es mich daran entlang zurückführen zu meinem Kind. Ich beschleunige den Schritt, will die Steilküste erreichen, bevor das steigende Wasser den schmalen Sandstreifen, auf dem ich gehe, überflutet. Immer wieder unterspült das Wasser meinen Tritt und treibt mich Richtung Land. Die Schwäne sind verschwunden, der Schneefall wird dichter. Wütende Böen zerren an mir, als ich die Steilküste erreiche und eilig an ihr entlanglaufe. Näher und näher werde ich von den herandrängenden Wassern an die Steilwand getrieben, ein düsteres Hindernis aus Sand und Schlick. Als das Wasser mir nur noch einen fußbreiten Pfad lässt und mich zwingt in albernen Verrenkungen hochzuspringen, um den heraneilenden Wellen auszuweichen, die gierig nach mir greifen und die Schuhe bis über die Knöchel hinauf durchnässen, wird mir klar, dass es weder vorn, wo die Küste sich über viele Hundert Meter hinweg steil aufbäumt, noch hinter mir, wo das Wasser den schmalen Pfad bereits verschlossen hat, einen Ausweg gibt und dass ich zwischen der Wand und dem
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