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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Autoren: Beate Rothmaier
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Müdigkeit hinter den Augäpfeln. Im hellen Himmel breiten sich grellblaue Flecken aus, ich nehme die Karte vom Beifahrersitz.
    Die Aussicht, Paule gegenüberzutreten, bringt mich vom Weg ab und ans Meer. Sehen, wie der Schnee fällt, mein Kind. Der Himmel, eine dunkelgraue Suppe, die Wolken stieben unmittelbar über die Dächer der wenigen Häuser hinweg, scheinen die weit geöffnete Landschaft zu streifen, mein Auto ist das einzige auf dieser Straße, kein Mensch zu sehen, kein Licht weit und breit. Wisełka, das letzte Dorf, bevor die schmale Landstraße sich ans Meer schwingt. Dunkle Stille auch hier, nur im Vorbei, als huschender Schatten, der Körper einer schlanken, hochgewachsenen Frau, hager fast, in einem langen bunten Rock, das dünne graue Haar zu Zöpfen geflochten, die ihr bis an den Bund reichen. Sie hält den Kopf gesenkt, als stemmte sie sich dem Wind entgegen, und als sie zu mir herübersieht, den Mund öffnet und etwas zu rufen scheint, erkenne ich sie. Wenige Meter weiter, zwei Jungen auf einem alten Herrenrad. Während der kleinere, auf dem Sattel sitzend, den Lenker hält und mit rot gefrorenen Händen steuert, hängt der andere unter der Stange und tritt in die Pedale. Blonde, kurz geschorene Köpfe. Im Rückspiegel sehe ich sie vor dem Haus, das Paule bewohnt, abspringen, als hätten sie das schon sehr oft getan, und durch das Gatter im Vorgarten verschwinden. Was hat es mit der Karte aus Rekowo auf sich? Wenn Paule sie geschickt hat, warum nicht aus Wisełka? Ja klar, sie wollte nicht zu finden sein. Noch immer nicht. Warum Rekowo? Ein Dorf, das keiner kennt, keinen interessiert? Sie hätte aus Stettin, aus Rostock, aus Ueckermünde oder Swinemünde schreiben können, so wie sie alle sechzehn Ansichtskarten vorher aus den großen Küstenstädten Europas geschickt hatte, wo sie auf der Durchreise war, wo sie keiner kannte, sich keiner an sie erinnern konnte, wo sie nicht zu finden war. Warum die Bilder und die Druckbuchstaben? Egal.
    Obgleich es sehr kalt ist, will ich sofort das Meer sehen. Die Minusgrade schrecken mich nicht und nicht der stehende Wind, der die Wolken vor sich hertreibt. Den Wagen stelle ich in einer Straßenbucht ab, gehe durch einen Föhrenwald und lasse die Hand über das zitternde Flaumgras gleiten, quere die Dünen, komme durch die Neigung der meerzugewandten Seite ins Rennen und laufe über eine weite sandige Fläche, dann über Kies und Muschelscherben bis an den Meeresrand. Keuchend blicke ich auf das schwarze Wasser, höre die Wellen tosen und sehe in den hellen Himmel, in dem die Schneeflocken wirbeln. Der Wind peitscht sie auf mich herab, sie taumeln aufs Wasser hinaus, werden wieder in die Höhe gerissen und ergeben sich sinkend, lassen sich aufs Wasser drücken, wo sie erlöschen. Ich habe ihn mit Lio sehen wollen: den Schnee, den wir als Matsch in den Rinnsteinen kannten, als weiße Hauben auf den Autos und Balkonpflanzen, als knirschende Matte unter den Schlittenkufen, als zart fallenden Schleier aus den zu schwer beladenen Ästen der Tannen, als weiße Fläche, deren gleißendes Weiß in die Pupillen schnitt, umso schärfer, je tiefer unser Mut sank. Weiße Fläche, nur die Tritte eines Rehs vor uns. Silbergeriesel schleiert aus den schwarzen Bäumen, Wattebäuschen gleich, ballen sich Schneenester in den Achseln der Zweige und beschweren die Gräser. Ein Mann, ein Mädchen im ersten Schnee, abseits aller Wege, umstellt von Zeichen, die wir nicht zu deuten wissen. Leere Zweige schreiben sie in den hellen Himmel, Kugeln und Bälle, Hauben und Polster, krakelige Symbole, Fußnoten zu einer rätselhaften Geschichte, die am Ende keinen Zusammenhang hat, keinen Sinn ergibt, ja möglicherweise ohne jeden Inhalt ist.
    Hier aber ist der Schnee weder Rätsel noch Ärgernis. Er fällt einfach. Taumelt, tanzt unaufhörlich vom Himmel, wird in langen Schleiern über das Meer geblasen, als triebe die Schneekönigin ihren prunkvollen Schlitten aus Eis und Kristall über die grau wogende, sich zärtlich entgegenbäumende Gischt, weht wie ein Vorhang am offenen Fenster. Die Flocken sinken, werden ins Wasser gepeitscht und ausgelöscht. Schnee, der aus lichtgrauen Wolken tanzt und, sowie er fällt, bereits geschmolzen ist, aufgelöst in den Meereswellen. Schnee, der nur für diesen Augenblick existiert, nur für mich, der ich da stehe und ihm zusehe. Der keinen Zweck hat, keine Bestimmung als die, mir, der ich so lange zu ihm gereist bin, Freude zu machen, und dem Mädchen,
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