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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Autoren: Linn Ullmann
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M ille oder das, was von ihr noch übrig war, wurde von Simen und zwei Kameraden gefunden, die im Wald einen Schatz ausgraben wollten. Zunächst war ihnen nicht klar, was sie gefunden hatten. Ihnen war nur klar, dass es nicht der Schatz war. Es war das Gegenteil von einem Schatz. Später, als sie der Polizei und ihren Eltern erklären sollten, warum sie im Wald gewesen waren, fiel Simen die Antwort schwer. Warum hatten sie in dieser Lichtung gegraben? Unter diesem Baum? Und wonach hatten sie eigentlich gesucht?
    Vor zwei Jahren hatten alle, Erwachsene wie Kinder, nach Mille gesucht. Alle, die im Sommer in dem kleinen Küstenstädtchen Urlaub machten, alle, die dort das ganze Jahr über wohnten, die Polizei, Milles Eltern, alle, die in der Zeitung über sie schrieben oder im Fernsehen über sie berichteten, hatten nach Mille gesucht. Im Wasser und an Land, in Gräben und in Gräbern, in den Sandhaufen von Tangen und in der Nähe der unzugänglichen Klippen nördlich des Zentrums, in den Ruinen hinter der stillgelegten Schule und in dem unbewohnten, baufälligen Haus am Ende des Brageveien, wo das Gras bis zu den Fenstern stand und kein Kind spielen durfte. Milles Eltern hatten jeden Meter im Zentrum abgesucht, sie waren von Kapitänshaus zu Kapitänshaus gezogen, von Geschäft zu Geschäft und hatten ein Foto von Mille vorgezeigt, sie hatten Plakate aufgehängt: an der Tür des Konsums, an der Tür der Kneipe Bellini, an der Tür des Buchladens, der früher für seine ungewöhnlich gute Auswahl an fremdsprachiger Belletristik bei Bücherliebhabern in ganz Norwegen bekannt gewesen war (zu Zeiten, als Jenny Brodal noch hinter dem Tresen stand), an der Tür zur Pizzeria Palermo und an der Tür der stillgelegten Bäckerei, die in den Sommermonaten das neu eröffnete Fischrestaurant Gloucester MA beherbergte, das alle nur die alte Bäckerei nannten, weil Gloucester so schwer auszusprechen war. Die alte Bäckerei stand dort, wo die Straße nach Mailund abging, die lange Straße, die sich zwischen den Klippen, dem Wald und all den Holzhäusern hindurchschlängelte, wovon eines hässlicher als das andere war.
    Alle hatten nach Mille gesucht, sogar der Junge, den sie KB nannten und der später verhaftet und des Mordes an ihr bezichtigt wurde, dabei war sie zwei Jahre lang unter dem Baum im Wald vergraben gewesen, ohne dass jemand sie fand, von Erde und Gras und Moos und Zweigen und Steinen bedeckt, und nun war sie selbst fast zu Erde geworden, wenn man vom Schädel und den Gebeinen, den Knochenresten und Zähnen, den dünnen Armbändern und den langen dunklen Haaren absah, die nicht mehr lang und dunkel waren, sondern dünn und welk, als hätte man Mille mit Wurzeln und allem Drum und Dran aus der Grube gezogen.
    In jenem Sommer, in dem Mille verschwand, glaubte Simen, sie überall zu sehen. Sie war das Gesicht im Schaufenster, der Kopf in den Wellen, das lange, dunkle Haar einer fremden Frau, das vom Wind hochgewirbelt wurde, und sie war Mamas rotes Kleid. Alle redeten über sie, alle fragten sich, wohin sie verschwunden war. Einst hatte Mille existiert, einst hatte sie Simen angeschaut und gelacht. Einst hatte sie Mille geheißen, doch dann war sie im Nebel verschwunden. Die Spaten waren real. Die Fahrräder waren real. Die Grube, in der sie lag, war real. Nur Mille war nicht real. Mille war ein Schleier aus Nacht und Frost, der hin und wieder durch ihn hindurchglitt und ihm die Freude nahm.
    Simen hatte sie nicht vergessen. Er dachte an sie, wenn er nicht schlafen konnte oder der Herbst näher kam und die Luft nach Schießpulver und nassem, welkem Gras roch, doch jetzt hatte er schon lange nicht mehr an sie gedacht.
    Simen war der Jüngste von den dreien. Die beiden anderen hießen Gunnar und Ole Kristian. An einem Samstag Ende Oktober 2010 verbrachten die Kameraden ihr letztes Wochenende zusammen. Die Ferienhäuser sollten winterfest gemacht werden, und das kleine Küstenstädtchen, ein paar Stunden südlich von Oslo gelegen, würde sich bald in seine eigene Dunkelheit hüllen. Es war Nachmittag, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und die Jungen beschlossen, den Schatz zu heben, den sie Monate zuvor vergraben hatten. Gunnar und Ole Kristian sahen keinen Sinn darin, ihn für alle Ewigkeit in der Erde ruhen zu lassen. Simen war anderer Meinung. Darin bestand doch gerade der Sinn, meinte er, das machte den Schatz doch aus, dass er allen außer ihnen verborgen blieb, der Schatz war unter der Erde tausendmal wertvoller
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